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Archiv-Artikel

Es bleibt der geordnete Rückzug

Jetzt ist das Bächel zahm – doch beim nächsten Sturzwasser würde es Frankes Haus verschlingen

aus Zuschendorf THOMAS GERLACH (Text)und ROLF ZÖLLNER (Fotos)

Aus gegebenem Anlass die aktuelle Wasserstandsmeldung: Pirna, Ortsteil Zuschendorf, die Seidewitz, „Bächel“ genannt: zehn Zentimeter, Tendenz fallend. Das Rinnsal murmelt ermattet in seinen Bett, noch ein paar Tage, dann stirbt es den Hitzetod. Kein Bächel – keine Not. Wasser kommt längst aus der Leitung, was braucht’s einen Bach? Wer das Plätschern liebt, hebt einen Teich aus, kauft eine Pumpe und wenn er genug hat, zieht er den Stecker. Aber wer liebt in Zuschendorf noch Plätschern, wo vor einem Jahr das Rinnsal zum Lindwurm angeschwollen ist und das halbe Dorf verwüstet hat? Und jetzt wird dieser dünne wässrige Faden in der Sommerglut verrecken. Doch er wird noch ein paar Häuser mitnehmen, als habe er sie vor einem Jahr vergessen.

Das von Michael Franke wird dran glauben, ein schönes Haus mit hübschen Fenstern, darüber Sandsteinstürze, Altrosa die Fassade, ein Glöckchen an der Tür, Schilf davor und hinterm Haus der Bach – ein Hauch Toskana. 207 Jahre steht das Haus im Tal, vor einem Jahr ist es glimpflicher davongekommen als manch anderes Anwesen. Verschlammt war es, doch alle vier Ecken haben gehalten: Nachbarn von oberhalb haben damals mitgeholfen, die Pampe rauszukarren, nun wird es abgerissen. Michael Franke, der Mann Anfang 40, steht in Shorts, die Hosenträger sind gespannt, ein paar Haare kleben auf der Stirn, er zeigt auf das Rinnsal: „Das ist hier die engste Stelle.“ Es ist Mittag, wer kann, sucht Schatten. Franke zitiert aus dem Gedächtnis ein Schreiben des Freistaates Sachsen, sagt Worte wie „Flussbegradigung“, „zwingend notwendig“, „Erwerb der Grundstücke“ und scheint angesichts des baldigen Verlusts recht zufrieden. Endlich ist Klarheit.

Monatelang war Unklarheit und Zeitverschwendung. Neun Kommissionen seien herumgelaufen, Sitzungen seien abgehalten worden – kein Resultat. Dann kam der politische Aschermittwoch der sächsischen CDU, und der Unternehmer, Christdemokrat und Bürger Michael Franke fuhr nach Bautzen in die Oberlausitz, hörte sich die Sermone der Parteispitze an, ging auf Ministerpräsident Georg Milbradt zu und fragte, was denn nun werde so viele Monate nach der Flut? Am Gründonnerstag kam die papierne Antwort: Das Haus kommt weg. Wahrscheinlich hat Franke aufgeatmet. Soll er in ein Haus investieren, dass gegen den Bach so viel ausrichten kann wie eine Sandburg gegen Ostseewellen? Jetzt kriecht die Seidewitz unterwürfig vorbei – doch beim nächsten Sturzwasser würde sie das Frankesche Heim als Vorspeise verschlingen.

Frankes Haus hat die Flut überstanden, weil das des Nachbarn wie ein Brecher davor stand. Doch dies Haus ist abgerissen, es war nicht mehr zu retten. Am Wochenende feiert der Nachbar weiter oben im Dorf Hauseinweihung. Der nächste Brecher wäre Frankes Haus, und wozu den Helden markieren, wenn das Haus sowieso das letzte ist, das auf dieser Seite so dicht beim Bächel steht? Feldstein, Sandstein und Lehm, solides Material, gutes Innenklima, gerade bei der Hitze, damit haben die Vorväter das Haus gemauert. „Solche Häuser haben keine Macht“, sagt Franke demütig. Was bleibt ist geordneter Rückzug. Der Freistaat kauft Haus und Grund, das Sümmchen reicht für den Neuanfang.

Franke steht entspannt wie ein Sommerfrischler, der nur einen Pavillon abreißen will, er steckt die Hände in die Taschen, klappert mit einem Schlüsselbund und scharrt ein bisschen mit den Badelatschen, als ob sich das Nadelöhr im sanften Tal von allein öffnen könnte. Vom Kirchturm schlägt die Uhr, aus dem Fenster blickt seine Frau. „Kommst du essen?“, lockt sie. „Ja“, sagt er und macht keine Anstalten zu gehen.

Das Bächel wispert in der Glut, auf der anderen Seite knirscht ein Auto über Schotter, Staub wirbelt, Absperrzäune stehen auf der neuen Bachmauer zwischen der steinigen Piste, die einmal die Dorfstraße, und dem Rinnsal, das einmal ein Lindwurm war. Mit so einer Mauer werden Schwerverbrecher isoliert, Tiere gebändigt, bald wird sie das Dorf in einen linken und eine rechten Teil zerschneiden, dazwischen das Rinnsal. Vor einem Jahr brüllte es tagelang wie toll, heute ist es anders: Spatzen zanken, oben das Schloss, unten der Wildbach – früher nannte man das idyllisch, heute ist es nur noch ruhig. Ein Alter mit Badehose und einer Haut, bronzen wie Tarzan, schlurft hinunter zur Gärtnerei.

Das Haus gegenüber habe wohl mehr Macht gegen die Flut, mutmaßt Michael Franke und zeigt auf den eingerüsteten Bau mit der kürzlich gemauerten Ecke und dem frischen Fundament. Hier hat die Seidewitz ordentlich was rausgebissen, doch hier geht es weiter, die Ziegel leuchten noch wie rohes Fleisch, Maurer haben die Wunde geschlossen, verheilt ist sie noch nicht. Das Todesurteil hätte auch dieses Haus treffen können – zwei Häuser hier sind eines zu viel. Michael Franke gibt seins her, um das seiner Mutter zu retten. Hier gehören beide Ufer der Familie Franke, es ist ein sächsisches Vineta. Und es ist ein Familienbeschluss, dass Michael weicht, um die Mutter zu schonen. Vielleicht ist es Einsicht, vielleicht Erbarmen mit der alten Frau, vielleicht ein frommer Wunsch – wahrscheinlich alles zusammen. Es scheint ein heidnischer Ritus: Das eine wird geopfert, um das andere zu halten.

Gewissheit ist rar seit dem 12. August 2002. Die neue Brücke oberhalb der Frankeschen Häuser gleich neben dem Gasthof – ist sie durchlässig genug? Ist sie zu eng? „Die Talsperrenverwaltung hat einfach die Pläne von ’98 genommen“, argwöhnt Michael Franke. Richtig! Die Pläne sind alt und der Durchlass zu klein, bestätigt die Talsperrenverwaltung später. Doch man beruhigt: Das Flussbett werde im Dorf und unter der Brücke tiefer gelegt, außerdem werde oberhalb des Dorfes eine Wiese geopfert und ein Deich gezogen, um bei der nächsten Flut die Wasser ins vertiefte Bett zu zwingen. So zähmt man ein Gewässer zweiter Ordnung.

Der Abriss ist der Frankesche Ritus, nur ingenieurtechnisch unterlegt. Warum werde die Straße wieder asphaltiert, wo doch die Asphaltfetzen wie Sicheln durch das Dorf geschossen sind? Für den Straßenbau ist die Talsperrenverwaltung gewiss nicht zuständig. Seltsam, dass Michael Franke noch immer so lässig klingt bei all diesen Fragen. In seinem Gärtchen steht eine Bank unter weiß-grünem Schirm, „CDU Sachsen – Junge Union“ steht an der Borte. Wohl dem, der ein Obdach hat, das man unter den Arm klemmt, wenn man endgültig geht. Doch das ist fern, Franke geht nur essen ins Haus.

Der Alte mit der Tarzanhaut kommt zurück, im Stoffbeutel trägt er Tomaten. Voriges Jahr hat das Bächel die Gärtnerei niedergewalzt, ist durch sämtliche Glashäuser gedonnert, hat alle Scheiben zerschlagen, danach standen Eisengerippe herum. Jetzt ernten Ziegenbalgs wieder. Unter dem Vordach hat sich ein Stillleben bewahrt: Zwei Paar Gummistiefel und ein Eimer voll Scherben. Jedes Haus hat sein Memento, Ingrid Ziegenbalg hat noch ein anderes: „Wenn’s regnet, zittern wir alle.“ Ingrid Ziegenbalg ist eine hagere Gärtnerin mit Gummitretern an den Füßen. Die Stiefel stehen bereit. Es regnet nicht, doch auch Hitze kann ängstigen: Wo bleibt all das Wasser, das verdunstet? Braut sich oben das nächste Unheil zusammen? Wetterberichte haben etwas Beunruhigendes, die Bauarbeiten auch. Ingrid Ziegenbalg beobachtet, wie hoch die Bachmauer jetzt gezogen wird. Wie viele Zentimeter ist der Talsperrenverwaltung ihre Gewächshausanlage wert? Vor der Gärtnerei fließt in normalen Zeiten das Bächel in einer Kurve nach links, der Elbe entgegen. Im vorigen Jahr ist es zuerst über die Bachmauer gesprungen, dann über die Mauer der Gärtnerei, dann hat es Tomaten, Gurken und Zucchini geschnappt.

Doch die Seidewitz hat nicht nur geerntet, sie hat auch gesät, fremdartiges Unkraut wuchert jetzt, Essigbäume schießen gen Himmel. Ziegenbalgs sind machtlos, die Scheibenegge kommt nicht durch, Steine aus dem ganzen Tal liegen gesät. Von den Sandsteinen der Mauer hingegen sind viele fort, zwei Haufen stehen gestapelt, der Rest liegt in der Elbe bei Pirna oder Dresden. Oder in Nachbars Garten. Es hat schon Ärger gegeben. Wenn doch aus all den Splittern Flachglas wachsen würde, das Jürgen Ziegenbalg nur noch zu verkitten braucht! Es wächst kein Glas, nur Unkraut. Vielleicht wäre es ein guter Zeitpunkt gewesen, die Gärtnerei für immer zu schließen. Soll sich das Bächel beim nächsten Mal holen, was es will. Tomaten kommen aus Spanien und Gurken aus Holland. Wer braucht eine alte Gärtnerei und vier rissige Hände?

Michael Frankes Reinigungsfirma und die Elektrofirma seines Bruders, vielleicht auch der Gasthof – das hat Zukunft. Aber so eine Murkelei? Es scheint, dass auch Ingrid Ziegenbalg gegrübelt hat. Außer den 2.000 Euro Soforthilfe haben sie auch noch nichts gesehen, sagt sie. Anträge seien gestellt, irgendwann wird ein sächsisches Staatsamt antworten und wohl auch zahlen. Bis dahin leben sie von Gurken, Tomaten und Schnittsalat. Was sollte ein Ehepaar Ende fünfzig und ohne Geld sonst tun? Zu Günther Jauch fahren? Hilfe gibt’s nur, wenn sie weiter krauten. Und es gibt einen Teilerfolg: Der Gasthof serviert Tomaten und Zucchini, überbacken mit Mozzarella, ein Sommergericht – die Tomaten sind von Ziegenbalgs, die Zucchini noch nicht; da wo ihr Beet war, steht Unkraut wie eine Wand.

Jürgen Ziegenbalg kommt auf den Hof gefahren, seine Liefertour ist vorbei. In einer Pappschachtel liegen die Münzen vom Hofverkauf jämmerlich wie die Sonntagskollekte. Neulich stand das Rote Kreuz mit der Sammelbüchse auf dem Hof, erzählt Ingrid Ziegenbalg und schüttelt den Kopf. „Das war ein bisschen arg, die haben das dann selber eingesehen.“ Für so eine Rendite ist es in Zuschendorf noch zu früh.