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Archiv-Artikel

Jeden Montag kurz vor zehn

„Wer war der Präsident, der die Syrien-Spur nie verfolgt hat?“, fragt der Redner. – „Die Ratte“, ruft eine Frau„Was sich geändert hat? Dass wir nur noch wenig Hoffnung haben, die Täter zu finden“, sagt der Rabbi

AUS BUENOS AIRES INGO MALCHER

Es ist kein besonders schweres Quiz, das der Mann mit der dicken Lederjacke den Demonstranten auf dem Platz vor dem Justizpalast von Buenos Aires aufgibt. „Wer war der ehemalige Präsident, der die Verdachtslinie nach Syrien nicht verfolgt hat?“, sagt er in ein Mikrophon. „Die Ratte“, ruft eine Frau. Der Fragesteller schreibt „Carlos Menem“ auf einen Pappkarton.

„Wie heißt der ehemalige Präsident, der gesagt hat, die Polizei von Buenos Aires sei die beste der Welt?“ – „Eduardo Duhalde“, ruft einer. Der Name wird ebenfalls notiert.

„Wie heißt der Kulturattaché der iranischen Botschaft, der nie vom Richter vorgeladen wurde?“ – „Moshe Rabanni“, rufen gleich zwei. Der Name kommt auch auf die Pappe.

„Der Richter, der nie wirklich ermittelt hat?“ – „Galeano“, ruft eine Frau im eleganten grünen Mantel mit Kunstpelzkragen.

Eine verlorene Spur in Syrien, ein verdächtiger iranischer Diplomat, korrupte Polizisten, ein untätiger Richter und schützende Politiker. Damit ist im Grunde schon alles gesagt über den Fall AMIA – das schlimmste antijüdische Attentat, das Argentinien je erlebt hat.

Die Frau im grünen Mantel steht still neben dem Redner und blickt verloren in die Menge. Sie heißt Adriana Reisfeld und ist Präsidentin von Memoria Activa, dem Zusammenschluss der Opfer und Geschädigten des Attentats auf das jüdische Kulturzentrum in Buenos Aires vor zehn Jahren. Es ist zehn Minuten vor zehn am Montagmorgen, und sie steht wie jeden Montag um diese Zeit auf dem Platz vor dem mächtigen Justizpalast. Reisfeld ist 48 Jahre alt, sie hat blondierte Haare, golden geschminkte Lidschatten und strenge Augen. Sie sagt: „Wir wissen heute genau so viel wie drei Tage nach dem Anschlag.“

Am Morgen des 18. Juli 1994 detoniert um 9.53 Uhr in der Einfahrt des AMIA-Gebäudes eine Autobombe. Stinkende Ammoniakgase, gelbe und schwarze Rauchwolken pressen sich durch die Gänge des Kulturzentrums. In nur vier Sekunden bricht das siebenstöckige Gebäude durch die Wucht der Bombe zusammen. In den Trümmern aus Stein, Zement und Stahlträgern sterben 85 Menschen. Mehr als 400 werden zum Teil schwer verletzt.

Seit jenem Montag treffen sich die Angehörigen der Opfer jeden Montag um 9.53 Uhr in dem Park vor dem Justizpalast und fordern die Aufklärung des Verbrechens. Dieser Montag ist ihr 519. Treffen. Ein alter Mann verteilt eine hausgemachte Zeitschrift. Untertitel: „Für ein fortschrittliches Judentum“. Ein anderer Flugblätter: „Zehn Jahre, 85 Tote“, steht darauf. Ein Rabbiner sagt in das Mikrofon: „Was sich geändert hat, ist, dass wir nur noch wenig Hoffnung haben, die Täter zu finden.“ Der Quiz-Redner sagt: „Die Aufklärung der Tat wurde gezielt verschleppt.“

Die Kundgebung ist zu Ende. Reisfeld lässt das Kabel der Lautsprecherboxen zusammenrollen, macht einen Termin mit dem Rechtsanwalt und bittet ein Fernsehteam auch nächsten Montag auf die Plaza zu kommen. Eine Viertelstunde später sitzt sie in einem Café mit Blick auf den Justizpalast und bestellt einen kleinen Milchkaffee im Glas.

Sie schaut zu dem drohenden, aber heruntergekommenen Gebäude hinüber und sagt: „Wir nennen ihn den ‚Palast der Ungerechtigkeit‘.“ Ihre Schwester Noemí Reisfeld kam bei dem Attentat ums Leben. Sie arbeitete als Sozialarbeiterin im Pensionswerk der AMIA im vierten Stock des Gebäudes. Durch die Wucht der Bombe stürzten zuerst Grundmauern im Erdgeschoss ein. Die sieben darüber liegenden Stockwerke implodierten, die Decken und Wände begruben die jeweils darunter liegende Etage. Sechs Tage lang war Noemí Reisfeld in dem Trümmerfeld vermisst, ehe man ihre Leiche barg.

Als in Argentinien im Jahr 1976 die Militärs putschten, wurde ein Freund von Noemí Reisfeld von den Militärs verschleppt, ihr Name stand in seinem Adressbuch. Zu Zeiten der Diktatur kam dies einem Todesurteil gleich. Noemí Reisfeld war damals erst 16 Jahre alt. Sie floh Tage später ins Exil, zunächst nach Israel, später nach Spanien und schließlich nach Mexiko. Wenige Wochen nachdem die junge Frau das Land verlassen hatte, klopften Militärs an der Tür der Eltern, um sie abzuholen. Da sie Noemí nicht fanden, hielten sie ihre große Schwester Adriana für die Gesuchte. Ihr Vater setzte in dieser Nacht Himmel und Hölle in Bewegung, um den Militärs zu beweisen, dass sie nicht die Gesuchte war. Schließlich fand er einen Brief, den Noemí nach ihrer Ankunft in Israel geschrieben hatte. Das war die Rettung.

Im Jahr 1983 müssen in Argentinien die Militärs abdanken, und Noemí Reisfeld kehrt nach Buenos Aires zurück. In Mexiko hatte sie begonnen, Soziologie zu studieren. Doch da die Militärs die soziologische Fakultät der Universität von Buenos Aires geschlossen hatten, schrieb sie sich für Sozialarbeit ein. Nach dem Studium fand sie eine Anstellung bei der AMIA. Als allein erziehende Mutter versorgte sie neben der Arbeit ihre zwei Kinder, die regelmäßig bei ihrer Schwester Adriana zu Mittag aßen.

Als die Bombe im AMIA-Gebäude explodierte, waren die Kinder in der Schule, und Noemís Schwester Adriana saß zu Hause bei einer Englischklasse. Das Telefon unterbrach sie. Ihre Tante war dran und berichtete geschockt, dass im Gebäude der AMIA eine Bombe explodiert sei. Im Fernsehen liefen Live-Bilder vom Ort des Grauens, auf denen nur Trümmer und Staub zu sehen waren. Reisfeld erschrak, erinnerte sich dann aber, dass ihre Schwester nur mittwochs Dienst hatte. Aber Zweifel blieben, als sie nicht zu erreichen war und sich auch nicht meldete.

Sie rief bei einer Kollegin ihrer Schwester an. Da erfuhr sie, was sie lieber nicht erfahren hätte: Die Schwester hatte ihren Dienst getauscht – und war zur Zeit der Explosion im vierten Stock. Die Familie erlebte schlimme Tage und Nächte. Sie hoffte auf ein Wunder. Doch nach sechs Tagen hatten sie Gewissheit: Noemí Reisfeld war bei dem Attentat ums Leben gekommen.

„In keiner Sekunde hätte ich damals gedacht, dass ich nie erfahren werde, wer meine Schwester ermordet hat“, sagt Reisfeld. Mit Memoria Activa unterstützt sie zunächst die Ermittlungen. Die Gruppe liefert dem Richter Zeugen und ermitteln selbst. Und jeden Montag steht sie auf der Plaza. Doch bald stellt Reisfeld fest: „Hier vor dem Gericht gibt es mehr Informationen als drinnen.“

In zehn Jahren Ermittlungen wurde das Wort AMIA in Argentinien zum Synonym für Vertuschung. Bis heute sind den Behörden nur Helfershelfer ins Netz gegangen. Carlos Alberto Telleldine, etwa. Der Mann sitzt in Untersuchungshaft, ihm wird vorgeworfen, den Wagen für die Bombe präpariert zu haben. Er wusste, dass Sprengstoff in den Wagen geladen würde. Aber er hat angeblich nicht nachgefragt, was damit geschehen soll, beteuert er vor Gericht. Er sagt auch: „Die haben mich benutzt.“ Wer? Er sagt es nicht. Er weiß es nicht. Angeblich. Die Hintermänner, die Auftraggeber, diejenigen, die die Bombe gezündet haben – sie sind unsichtbar geblieben.

Dabei hat es an Indizien nie gemangelt. Allein, der zuständige Richter ist ihnen nicht nachgegangen. Da ist etwa die Spur, die in die iranische Botschaft führt. Moshe Rabanni, der Kulturattaché, war dabei gefilmt worden, wie er sich wenige Wochen vor dem Anschlag bei einem Autohändler für einen Renault Trafic interessierte – genau der Wagen, in dem die Bombe explodierte. Doch der Richter lädt ihn nicht vor, weil er als Diplomat Immunität genießt. „Man kann ihn aber auch vorladen und dann zur Antwort bekommen, er mache von seiner Immunität Gebrauch“, sagt Reisfeld verärgert, aber selbst dabei bleibt sie erstaunlich ruhig. Nach dem Attentat blieb Rabanni noch mehrere Monate in Buenos Aires.

Oder die Spur, die nach Syrien führt. Der in Untersuchungshaft sitzende Telleldine erhielt einen mysteriösen Anruf, der die Opferanwälte auf diese Spur brachte. Doch auch ihr wurde nicht nachgegangen. Vielleicht wirklich deswegen, weil der damalige Präsident Carlos Menem aus Syrien stammt und, wie Reisfeld meint, selbst die Anweisung gegeben habe, nicht in diese Richtung zu ermitteln.

Als sicher gilt, dass der Sprengstoff über die Stadt Ciudad del Este in Paraguay nach Argentinien gelangte. Ciudad del Este zählt eine sehr große arabische Gemeinde, auch pensionierte Hisbollah-Kämpfer hat es dorthin verschlagen. Der argentinische Geheimdienst hält die Stadt für ein Zentrum des internationalen Terrorismus. Der israelische Geheimdienst Mossad, die CIA und der BND beobachten die Stadt. Doch die Grenze im Dreiländereck zwischen Argentinien, Brasilien und Paraguay ist fast so durchlässig wie eine innereuropäische Grenze. Korrupte Zöllner sorgen dafür, dass alles die Grenze passiert, was auch hinüber soll – alles eine Frage des Geldes.

„Wir sind uns sicher, dass eine internationale Terrorgruppe in den Anschlag verwickelt ist“, sagt Reisfeld. Sprengstoffexperten haben ermittelt, dass es die bei dem Anschlag verwendeten Zünder in Argentinien gar nicht gibt. Doch Argentinier haben für die Logistik vor Ort gesorgt. Aber wer, außer Telleldine? Für den Opferanwalt Pablo Jacoby ist er der einzige Beschuldigte in dem Verfahren. Ein dürftiges Ergebnis für ein Attentat dieses Ausmaßes. Nichts – nach zehn Jahren Ermittlungen.

Reisfeld geht weiterhin jeden Montag um 9.53 Uhr den Platz vor dem Gerichtsgebäude. Es bleibt ihr nichts anderes übrig. Die beiden Töchter ihrer Schwester sind bei dem Vater aufgewachsen und fragen oft: „Warum musste meine Mutter sterben?“ Dass sie auf diese Frage noch einmal eine Antwort bekommen, glaubt Reisfeld nicht. „In zehn Jahren sind Beweise verschwunden, Zeugen verlieren ihr Erinnerungsvermögen, es ist sehr unwahrscheinlich“, sagt sie und fügt an: „Im jüdischen Glauben dauert die Trauer ein Jahr lang, danach muss das Leben wieder normal werden.“ Doch zurück zur Normalität ist, nach allem was passiert ist, unmöglich. Und deshalb hofft sie einfach weiter: „Es gibt immer einen, der nach Jahren seine Tat bedauert und dann alles gesteht.“