tschetschenien, selbstmordanschlag etc. : Nach Mosdok: Russland braucht eine „Roadmap“
Der kaukasische Teufelskreis
Nach dem jüngsten Selbstmordanschlag, der 50 Tote forderte (taz vom 1. 8.), wäscht man im fernen südlichen Mosdok, dem größten russischen Militärstützpunkt im Kaukasus, das Blut vom Asphalt. Das Farbfernsehen gibt in verräterischer Weise die rote Farbe auf den Baumstämmen wieder. Der Garten vor dem Krankenhaus sieht aus, als habe dort eine Atombombe eingeschlagen: schwarze Zweige, auf denen Kleidungsfetzen hängen oder Stücke menschlicher Körper. Die Gesichter der Verwandten der Opfer sind ausdruckslos: Der Schrecken ruft Erstarrung hervor, keine Tränen.
In Moskau weint auch niemand mehr. Nach der Explosion zweier Wohnhäuser vor vier Jahren und der Geiseltragödie im Musicaltheater im vergangenen Oktober haben sich die Moskauer an die Wiederholbarkeit solcher Tragödien gewöhnt. Wir haben uns daran gewöhnt, mit tschetschenischen Bomben zu leben, genauso wie sich die Tschetschenen daran gewöhnt haben, unter permanentem Druck zu leben. Wir bewegen uns zusammen in diesem Teufelskreis.
Wenn ich mal nach Mosdok komme, dann werde ich als Erstes die Stelle aufsuchen, an der das gesprengte Militärkrankenhaus stand. Das ist jetzt eine Trauerstätte, wohin zu jedem Jahrestag des Anschlags viele Menschen aus ganz Russland kommen werden, um ihrer Verwandten zu gedenken.
Als ich vor 15 Jahren erstmals nach Westberlin kam, ging ich nicht sofort in den Reichstag – den hatte ich mehrmals in sowjetischen Filmen gesehen –, sondern ich ging zu der Diskothek La Belle. Über den Terroranschlag auf US-Soldaten hier hatte die sowjetische Presse damals mit großer Sympathie für die Attentäter berichtet. Das war noch zu Zeiten des Kalten Krieges, als Opfer jenseits der Barrikaden kaum mit dem Beileid der sowjetischen Presse rechnen konnten.
Nach Mosdok fragen sich viele: Warum, wer ist schuld daran, und was ist zu tun? Die Frage nach dem „Warum?“ werden viele mit „Tschetschenien will seine Unabhängigkeit“ beantworten, die Frage „Wer ist schuld?“ mit Präsident Wladimir Putin und seinem großspurigen Ausspruch‚ die tschetschenischen Terroristen „selbst auf dem Lokus abzuschlachten“. Und was wäre zu tun? Sich aus Tschetschenien zurückziehen.
Das ist nicht so einfach. Ich habe lange in Tschetschenien gearbeitet, vor dem Krieg den damaligen Präsidenten Dschochar Dudajew und den späteren Präsidenten Aslan Maschadow interviewt, einen Film über die Siedlung Chajbach gedreht, wo das NKWD [Volkskommissariat des Innern, Vorläuferorganisation des KGB, d. Red.] gut einhundertfünfzig Tschetschenen lebendig verbrannt hatte. Ja, Dudajew und Maschadow wollten die Unabhängigkeit Tschetscheniens. Aber das war eine irgendwie merkwürdige Unabhängigkeit – einerseits Eigenständigkeit und andererseits engste politische und wirtschaftliche Verbindungen mit Russland. Das bekamen sie damals im Grunde genommen, aber das allgemeine Chaos führte zur Kriminalisierung von ganz Tschetschenien.
Moskau war dieser Situation damals nicht gewachsen, außerdem mangelte es offenbar an Geduld. Darum obsiegte die Formel des damaligen Verteidigungsministers Pawel Gratschow, der die Ordnung in Tschetschenien „innerhalb von 24 Stunden unter Einsatz eines Fallschirmjägerregiments“ herstellen wollte.
Moskau hat im ersten Tschetschenienkrieg von 1994 bis 1996 faktisch eine Niederlage erlitten. Das Friedensabkommen von Chassawjurt vom August 1996 wurde nicht von einem Politiker, sondern von Armeegeneral Alexander Lebed unterschrieben. Es war eine Art Kapitulation und ein würdiger Ausweg aus der Krise.
Aber Tschetschenien konnte die Früchte seines Sieges nicht nutzen. Der Wahnsinn der tschetschenischen Anführer führte 1999 zum Einfall in Dagestan, dem zweiten Krieg, und zu Sprengstoffanschlägen auf Wohnhäuser in Moskau. Dieser zweite Krieg wuchs in gewöhnlichen Terrorismus hinüber, und niemand weiß, wer morgen in die Luft gesprengt wird. Europa beispielsweise ist bis jetzt noch verschont geblieben.
Was ist zu tun? Ich glaube nicht daran, dass sich das tschetschenische Volk von Russland trennen will. Das wollte es auch unter Dudajew nicht, musste aber aus Angst schweigen. Heute erkennt die tschetschenische Intelligenz selbst den Verfall der eigenen Nation.
Tschetschenien musste zwar viele Übel von Moskau hinnehmen, aber eine Zukunft kann nur Russland ihm geben. Ansonsten könnte Tschetschenien selbst zu jenem Lkw von Mosdok werden, der Russland in die Luft sprengt. Unter den Trümmern wäre dann nicht mehr zu unterscheiden, wer Tschetschene und wer Russe ist.
Man muss eine friedliche Lösung suchen. Doch je öfter es zu Anschlägen kommt, desto härter werden die Antworten sein. Der einzige Ausweg besteht in einem unverzüglichen Waffenstillstand und Verhandlungen. Wie Israel braucht Tschetschenien offenbar eine „Roadmap“, denn offenbar haben sich alle verlaufen. BORIS KAIMAKOW
Boris Kaimakow, 55, ist stellvertretender Chefredakteur der Russischen Nachrichtenagentur Nowosti. In den Neunzigerjahren war er für verschiedene deutsche Fernsehgesellschaften mehrmals in Tschetschenien. Später arbeitete er als politischer Kommentator beim Fernsehsender TW-Zentr.