Ein Kapitalist verliert Kapital

aus Moskau KLAUS-HELGE DONATH

Russland steht am Rande einer Werterevolution. Unvorstellbares ereignete sich Ende Juli, als der Generalsekretär der Kommunistischen Partei, Gennadi Sjuganow, ausgerechnet dem reichsten Mann des Landes, Michail Kowski, moralisch zur Seite sprang. Einem jener superreichen Oligarchen, die im Rufe stehen, sich in den Neunzigerjahren die Filetstücke des Volkseigentums skrupellos unter den Nagel gerissen zu haben. Anfang Juli hatte die russische Justiz Michail Chodorkowski und seinen Ölkonzern Yukos ins Visier genommmen. Der Aktienmarkt gab sofort nach und das Unternehmen büßte innerhalb weniger Tage die ungeheure Summe von sieben Milliarden Dollar Aktienkapital ein. Das Vorgehen der Staatsanwaltschaft, warnte KP-Chef Sjuganow, lege das Finanz- und Wirtschaftssystem des Landes lahm. Mehr noch: es destabilisiere Russland.

Chodorkowski wurde bisher nicht angeklagt, die Breitseite der Angriffe richtet sich zunächst gegen Aktionäre und Miteigentümer aus der zweiten Reihe des Imperiums. Einer von ihnen ist Platon Lebedew, dem nicht nur betrügerische Aneignung, sondern auch noch Mord zur Last gelegt werden. Tatsächlich gilt die Phase der wilden Privatisierungen nicht gerade als Glanzstück der russischen Reformen. Nur, warum sollten Chodorkowski und Mitstreiter ruchloser als all die anderen Oligarchen vorgegangen sein, die ihre Nähe zur Politik nutzten, um günstig abzusahnen?

Größer als Gazprom

Mit 35 Milliarden Dollar geschätztem Marktwert gilt Yukos als der finanzkräftigste Konzern Russlands, noch vor dem Gasgiganten Gazprom. Westliche Konzerne halten den Ölkonzern inzwischen für ein vorbildliches Unternehmen. „Ehrlichkeit, Offenheit und Verantwortlichkeit“ erhob Chodorkowski zum Leitmotiv und gab sich so ein aufgeklärtes, westliches Image. In den Fußstapfen von Multimilliardär George Soros gründete der studierte Chemiker im letzten Jahr die Stiftung „Offenes Russland“, die sich die Entwicklung der Zivilgesellschaft zur Aufgabe gemacht hat. Durch die Unterstützung der Humanistischen Universität in Moskau erhielt der Oligarch zudem einen Gegenpol zur linientreuen Staatswissenschaft. All das könnte die gängige Verquickung von Politik und Geschäft, Kreml und Kapital langfristig bedrohen. Könnte …

Ein Motiv des Angriffs auf Chodorkowski sehen Beobachter in seinen politischen Ambitionen. Denn aus der Unterstützung der Gegner Putins hat der reichste Mann des Landes nie einen Hehl macht. So finanziert sein Ölkonzern die liberalen westorientierten Parteien Jabloko und die Union der Rechtskräfte (UDR). Angeblich steckt er auch den Kommunisten gelegentlich etwas zu, öffentlich hat er das bisher aber dementiert. Mit seinem Geld trägt er dazu bei, schwache aber doch demokratische Strukturen vor der Gleichschaltung durch die „gelenkte Demokratie“ des Staatspräsidenten zu bewahren.

Offiziell hält sich Wladimir Putin aus den Vorgängen heraus. In laufende Ermittlungen der Staatsanwaltschaft könne der Präsident nicht eingreifen, verlautet aus dem Kreml, der die Klaviatur der rechtsstaatlichen Semantik bestens beherrscht. Klar jedoch ist: Ohne direkte Order aus dem Kreml würde kein russischer Staatsanwalt es wagen, ja nicht einmal auf die Idee kommen, gegen einen Oligarchen vorzugehen.

Doch wovor hat Wladimir Putin, dessen Unterstützung durch das Wahlvolk konstant bei siebzig Prozent liegt, eigentlich Angst? Die Wiederwahl im März ist gesichert. Selbst wenn nicht, reicht das Know-how, um wahlentscheidend nachzubessern.

Wie lange regiert Putin?

Offensichtlich machen sich die Machtstrategen im Kreml schon Sorgen um die dritte Amtsperiode ab 2008. Sollten bei den Parlamentswahlen in diesem Winter oppositionelle Parteien deutlich zulegen, würde dies das Vorhaben des Kremls durchkreuzen, die Verfassung so zu ändern, dass eine weitere Präsidentschaft – vielleicht auf Lebenszeit – möglich würde.

Neben diesen politischen Zielen gibt es noch ein weiteres Motiv für das Vorgehen gegen den reichsten Mann des Landes. Putins Entourage aus St. Petersburg besteht aus hungrigen Wölfen, die bei der Privatisierung leer ausgegangen sind. Sie streben nach Revision der Eigentumsverhältnisse und bauen auf eine Umverteilung in ihrem Sinne.

Wofür gute Voraussetzungen bestehen: Denn Putins Leute wissen nur zu gut, dass siebzig Prozent der Wähler eine Korrektur der Besitzverhältnisse für richtig halten. Mit dem Versprechen „Umverteilung im Namen des Volkes“ lässt sich so trefflich Wahlkampf führen. Das Gerechtigkeitsempfinden des Volkes dürfte so gegen gültiges Recht ausgespielt werden. Und den Aufbau eines Rechtsstaates entscheidend behindern. Am Ende wird das Volk keinen Rubel mehr in der Tasche haben, doch wäre der Appetit der Petersburger Wölfe erst einmal gestillt. Sie hätten der weitläufigen „Familie“ des ehemaligen Präsidenten Boris Jelzin, zu der eben auch Oligarchen wie Chodorkowski oder Roman Abramowitsch zählen, gezeigt, wer jetzt das Sagen hat.

So bekam Premierminister Michail Kasjanow, der dem Familienclan Jelzins zugerechnet wird, die Wut der Putin-Anhänger bereits deutlich zu spüren. Kasjanow trat den Ängsten der Oligarchen vor Enteignung zunächst entgegen und kritisierte das Vorgehen der Staatsanwaltschaft. Ihre Antwort kam wie aus der Pistole geschossen: Kommentare von Seiten des Regierungschefs seien, um es milde zu formulieren, unangemessen und ein Versuch, auf eine unabhängige Institution Druck auszuüben.

Die Balance, die der Kremlchef bisher zwischen den mächtigen Oligarchen und seinen Leuten aus den so genannten Gewaltministerien – Geheimdienst, Innen-, Verteidigungs- und Justizministerium – wahrte, scheint nun zu Gunsten der Uniformträger zu kippen. Das war vorauszusehen. „Kader entscheiden alles“, glaubte einst Revolutionsführer Wladimir Lenin. Und Putin sieht dies ebenso. Seit seinem Amtsantritt 2000 wurden allein im Wirtschaftsministerium und angegliederten Einrichtungen 35 Prozent aller offenen Stellen mit Geheimdienstlern besetzt. Das geht aus einer Studie hervor, die das Soziologische Institut der Russischen Akademie der Wissenschaften jetzt vorlegte. Seit 2001 untersuchte das Institut 3.500 Lebensläufe von Mitgliedern der Regierung, Präsidialkanzlei und Abgeordneten beider Parlamentskammern sowie regionaler Eliten.

Gerade Präsident Putins neu geschaffene föderale Großgouvernements, sieben an der Zahl, entpuppten sich dabei als Hochburgen der Sicherheitsbeamten. Siebzig Prozent des Personals entstammen dem Militär und dem Geheimdienst FSB.

Unter Jelzin war ein militärischer oder geheimdienstlicher Hintergrund einer politischen Karriere eher hinderlich. Heute ist es umgekehrt. Wer als FSBler zu Wahlen antritt, der streicht einen Spitzelbonus ein. Glauben die meisten Wähler doch, der Kandidat genieße die direkte Unterstützung des ehemaligen Chef-Tschekisten im Kreml.

Zugleich zeichnete sich die Putin-Ära aber auch durch eine Zunahme von Big-Business-Vertretern in politischen Schlüsselpositionen aus. Sie konnten ihre Präsenz um das Siebenfache ausbauen, 16 Prozent der Spitzenposten in der Exekutive bekleiden Wirtschaftsbarone, in der Duma sind sie mit 17 Prozent und auf Regierungsebene mit fünf Prozent vertreten. Auffallend: Intellektuelle haben in der Umgebung Wladimir Putins keine Chance, sie sind aus der Politik seither fast völlig verschwunden.

Weltbild wie die Taliban

Im Unterschied zu Chodorkowski und den anderen einflussreichen Wirtschaftsleuten sind die Vertreter der Gewaltministerien an wirtschaftlicher Kooperation mit dem Westen nur soweit interessiert, als diese einer macht- und militärpolitischen Wiedererstarkung Russlands dient. Ihr Weltbild ist autoritär und deckt sich eher mit dem der Taliban denn dem Universalismus westlicher Demokratien.

Der Chef der Russischen Union der Unternehmer und Industriellen, Arkadi Wolski, gab sich zu Beginn des Konfliktes nach einer Audienz im Kreml zuversichtlich: In einigen Tagen sei das Problem vom Tisch. Inzwischen warnt er vor den Folgen. In der Republik Baschkirien hätte das Moskauer Beispiel Schule gemacht, indem Polizisten die Reprivatisierung bereits in Eigenregie übernommen hätten. Auch westliche Investoren reagierten sofort. Eine geplante Fusion der Konzerne Exxon, Chevron und Yukos wurde auf Eis gelegt, man begann russische Portfolios abzustoßen. KP-Chef Sjuganow hatte Recht: Statt der „Diktatur des Gesetzes“, die Putin dem Land ursprünglich verordnet hatte, droht nun wieder Chaos.