Ein profaner Caudillo?

Hugo Chávez polarisiert die Welt. Dass sein Venezuela mit den Sehnsüchten europäischer Linker wenig zu tun hat, zeigt Michael Zeuske in seiner umfassenden Geschichte Venezuelas

Es scheint, als seien gegenüber Hugo Chávez nur zwei Haltungen möglich: Entweder ist er der lang ersehnte Erlöser der Armen und Entrechteten und Visionär eines neuen, linken Lateinamerika, oder er ist das Übel des amerikanischen Subkontinents, der populistische Führer, der sein Land ins Chaos stürzt und sich noch dazu dabei lächerlich macht.

In seinem Buch „Von Bolívar zu Chávez“ gibt Michael Zeuske ein differenzierteres Bild von Chávez’ Regierung und zeichnet ausführlich die 500-jährige Geschichte Venezuelas bis heute nach.

Es ist nicht leicht, in Venezuelas Geschichte den Überblick zu behalten. Schnell wechselnde Präsidentschaften, Aufstände, Revolten und – und das ist wichtig, um Chávez’ Politik einordnen und beurteilen zu können – viele Verfassungen und Verfassungsänderungen prägen die Geschichte des Landes. Über die traditionelle National- und Politikgeschichtsschreibung hinweg versucht Michael Zeuske, den Nebenschauplätzen der Geschichte Raum zu geben. Einen Schwerpunkt legt er auf die mestizisierten Llaneros, die Bewohner des Landstreifens hinter der Küstenregion, zu denen auch Chávez gehört. Schon zur Kolonialzeit lebten die Llaneros in Abgrenzung vom kolonialen Norden und den städtischen Zentren, heute sind sie Sinnbild des mythischen Venezuela, ähnlich wie die Gauchos in Argentinien.

Mit dem Modell der Molekularpolitik macht Zeuske die unübersichtlichen Akteursstrukturen der venezolanischen Politik deutlich. Soziale Organisationen und Verbände haben in Venezuela Tradition und ein System von großen Parteien und demokratischem Wahlsystem bildete sich erst seit den 1960er-Jahren langsam heraus.

Chávez schaffte es 1998, „Moleküle“ der Politik für sich zu gewinnen, und erreichte durch seinen medialen Wahlkampf, dass die Bewohner der Favelas sich von ihm einnehmen ließen und für ihn stimmten. Zeuske sieht in Chávez’ Strategie neue politische Muster: „Symbolpolitik, rhizomartige Molekularstruktur des Politischen, Performance des ‚Authentischen‘ in den Medien, kulturelle und vor allem visuelle Repräsentations- und Legitimationsmodelle haben einen viel höheren Stellenwert als früher.“

Dem westlichen Vorwurf des Populismus von Chávez nimmt Zeuske jedoch den Wind aus den Segeln: „Der Negativklang, den das Wort ‚Populismus‘ in den Ohren von Intellektuellen, europäischen Lesern und Fernsehzuschauern erzeugen soll, bedeutet der Masse der Barrio-Bewohner nichts.“

Die Bedeutung Simón Bolívars könne für Chávez’ politischen Diskurs nicht überschätzt werden – die „Nation Venezuela“ sei eine Konstruktion, basierend auf den Texten und Reden Bolívars, deren sich Chávez freimütig für seinen Diskurs eines sozialistischen Venezuela bedient. „Bolívar ist so etwas wie der Obergott einer neuen heroischen Illusion. Dabei wird die sozialrevolutionäre Bedeutung Bolívars übertrieben.“ Dass Nationen konstruiert und erfunden sind, ist nicht eben neu, und leider verpasst Zeuske die Chance, anhand von Quellen zum Beispiel die Erfindung von Traditionen, die eine Nation zu einer Nation machen, aufzuzeigen.

Chávez’ Wirken beurteilt Zeuske differenziert: er sieht darin keine Revolution, sondern „die Einbeziehung breiter Bevölkerungsgruppen der armen Unter- und Mittelschichten in die Politik“ und „die Rückgewinnung von staatlichem Einfluss auf Staatsfirmen“, wie es die „Aufgaben eines modernen Staates“ eben seien.

Der Einfluss, den Chávez auf das Funktionieren der Demokratie und der sozialpolitischen Umwälzungen hat, wird laut Zeuske aber häufig überschätzt: „Viel wichtiger sind weite Teile der ‚neuen‘ Staatsbürokratien, Wirtschaftseliten und Militärs in verantwortlichen Funktionen, die, nachdem eine gewisse Konsolidierung eingetreten war, nicht bereit gewesen sind, eine wirklich demokratische und partizipative Gesellschaft zu entwickeln.“

Gleichzeitig sieht Zeuske die Gefahren, die in dem Politikstil von Chávez liegen: „Aus der einsamen Position von Chávez als beauftragtem Vermittler Bolívars kann aber auch noch ein ganz profaner Caudillismo werden, man sollte sich da keinen Illusionen hingeben.“ Allzu große auf Chávez gerichtete Hoffnungen will Zeuske eindämmen: „Der historische Raum Venezuela und die Nation mit dem Vornamen Venezuela haben mit exotischen Sehnsuchtsprojekten europäischer Linker wenig zu tun.“

Zeuskes Buch bietet einen erhellenden und tiefen Einblick in die oft verworrene Geschichte Venezuelas, aus der Chávez hervorgegangen ist. Leider gelingt es dem Autor nicht oft, die Pfade der traditionellen Nationalgeschichtsschreibung zu verlassen, aber seine Darstellung insbesondere der 200 Jahre, in denen Venezuela mit den Projekten Nation, Moderne und Demokratie kämpfte, ist unerlässlich für jeden, der Chávez verstehen und beurteilen will.

FRAUKE BÖGER

Michael Zeuske: „Von Bolívar zu Chávez. Die Geschichte Venezuelas“. Rotpunktverlag, Zürich 2008, 620 Seiten, 34 Euro