: Kreuzberger Solidarität
AUS SAN RAFAEL DEL SURRALF LEONHARD
Vetiver heißt die wichtigste Pflanze auf der Anschauungsfinca bei Rafael del Sur. Das hohe, scharfblättrige Gras stoppt mit seinen tiefen Wurzeln die Erosion. Es kann verfüttert oder als Heilpflanze eingesetzt werden, und das Wurzelöl findet in der Parfumindustrie Verwendung. Es kann auch als Insektenschutz dienen. Die Kleinbauern sind gut beraten, wenn sie das ursprünglich aus Indien stammende Gras auf ihrem Boden heimisch machen. Es wird auf den Hängen und an den Rändern der Ackerfläche gepflanzt und festigt den Boden. Erosion ist ein Problem, mit dem praktisch alle Campesinos der Dürreregion zu kämpfen haben.
Auf der Demonstrationsfinca werden sie auch mit der sparsamen Tröpfchenbewässerung vertraut gemacht und lernen das Pelibuey-Schaf kennen. Dieses aus Westafrika stammende Schaf, das einst mit den Sklaven nach Amerika kam, ist mit seinem dünnen Haar dem Klima angepasst. Es ernährt sich von Unkraut und sein Fleisch wird inzwischen von einigen Restaurants auf die Speisekarte gesetzt. Die Finca, betreut vom 29-jährigen Agronomen Rafael Silva, ist ein Resultat der seit bald 20 Jahren bestehenden Städtepartnerschaft des Berliner Bezirks Kreuzberg mit der Stadt San Rafael del Sur.
Die Gemeinde, die sich bis zum Fischerdorf Masachapa am Pazifik erstreckt, „wurde uns einfach zugeteilt“, erinnert sich Franz Thoma, der noch nicht dabei war, als sich 1984 in Kreuzberg eine Gruppe bildete, die in Nicaragua Solidaritätsarbeit leisten wollte. Er selbst wurde 1985 als Architekt erstmals nach Nicaragua geschickt, um den Bau eines Jugendzentrums zu planen. Das Jugendzentrum wurde 1986 von der ersten Kreuzberger Baubrigade errichtet. Sechs Monate lang schwitzten die 40 Deutschen unter der Sonne von San Rafael, freundeten sich aber wohl auch mit dem heimischen Bier und den Verlockungen des Strandes an.
Franz Thoma, der damals als Bauleiter fungierte, blieb in Nicaragua, hat eine bereits halbwüchsige Tochter mit seiner nicaraguanischen Frau und nähert sich langsam dem Pensionsalter. Er hat die nicaraguanische Mentalität inzwischen so weit verinnerlicht, dass er sich mit Politikern der verschiedensten Couleurs herumschlagen kann, ohne der Einmischung geziehen zu werden.
Das war nicht immer so. Speziell, als die Sandinisten 1990 nicht nur landesweit abgewählt wurden, sondern auch in San Rafael die Mehrheit verloren, durchlebte die Städtepartnerschaft kritische Wochen. „Die FSLN-Leute wurden damals zum Abschuss freigegeben“, erinnert sich Thoma. Natürlich im übertragenen Sinn: Alle wichtigen Positionen wurden mit Leuten der siegreichen Allianz „Union Nacional Oppositora“ (UNO) besetzt. Als Sandinist wurde man ausgegrenzt.
Der neue Bürgermeister Jorge Pérez Farach hätte den deutschen Koordinator fast verhaftet: „Ich habe es gewagt, ohne um Erlaubnis zu bitten, eine Wasserpumpe zu überprüfen.“ Der neue Stadtchef betrachtete die Städtepartnerschaft als sandinistische Verschwörung und hätte wohl auch das anstehende Trinkwasserprojekt für drei Dörfer gestoppt. Erst als die neuen Dorfvertreter, die sich allesamt zur UNO bekannten, in einer öffentlichen Versammlung protestierten, gab der Bürgermeister grünes Licht. „Das Projekt wurde mit der besten Beteiligung der Bevölkerung ausgeführt“, freut sich Thoma über den großen Erfolg: „Mitarbeit der Stadtverwaltung: null.“
Erst als der Bürgermeister 1993 in die deutsche Hauptstadt eingeladen wurde, begann er sich für die Partnerschaft zu erwärmen. Er begann zu erkennen, dass er aus den Infrastrukturprojekten politischen Profit schlagen konnte, und stellte fortan selbst Anträge. Aber „weder die Sandinisten noch die Liberalen konnten sich mit unseren Projekten privat bereichern“, gibt sich Franz Thoma zufrieden.
Der Schock des politischen Wechsels führte aber nicht nur in Nicaragua zu Turbulenzen. Auch der Kreuzberger Trägerverein stellte sich 1990 die Frage: „Wollen wir im UNO-Land weiter Projekte machen?“ Die Diskussion wurde schließlich beendet, als der ehemalige Bürgermeister von Managua, Carlos Carrión, auf einer Europa-Tour dafür plädierte, die nicaraguanische Bevölkerung nicht im Stich zu lassen. Um sich legal abzusichern, ließ Thoma den Verein schleunigst beim Innenministerium als gemeinnützige Organisation eintragen: „Wir waren landesweit erst die Nummer zehn im Register.“
Die Städtepartnerschaft ist inzwischen auf verschiedenen Gebieten aktiv: sie unterstützt Schulen und Gesundheitszentren, finanziert Impfkampagnen, organisiert Ausstellungen und richtete eine Bibliothek ein. Regelmäßig kommen Container mit Hilfsgütern. Es gibt Impulse für Umweltschutz und Aufforstung. Nach dem Seebeben, das im September 1992 mehrere Dörfer am Pazifik verwüstete, wurde mit Nahrungsmitteln Soforthilfe in Masachapa und Pochomil geleistet. Die Bibliothek am Hauptplatz wird vor allem von Schülerinnen und Schülern genützt. Sie finden dort nicht nur die Schulbücher, die sich viele nicht leisten können, sondern auch klassische Nachschlagewerke wie die Encyclopedia Britannica, den Großen Larousse oder die Geschichte Spaniens und Lateinamerikas in 19 Bänden.
Auf diese etwas verstaubt wirkenden Klassiker und die Romane der Weltliteratur werde allerdings wenig zurückgegriffen, gibt die Bibliothekarin zu. Auch das Museum, das aus einer ungeordneten Ansammlung fossiler Knochen, präkolumbianischer Schädel und Muscheln besteht, bedarf noch der Zuwendung. Dass die Städtepartnerschaft beiderseits des Atlantiks als wichtiger Beitrag zum kulturellen Austausch betrachtet wird, bewies 1996 der Staatsbesuch von Roman Herzog. Der Bundespräsident ließ sich damals durch die Projekte führen und hielt eine Rede.
Seit 2001 wird San Rafael wieder von den Sandinisten regiert. Noel Cerda wurde mit knapper Mehrheit gewählt, hat sich aber inzwischen durch seine Fähigkeit, bei den Zentralbehörden Projekte für seine Gemeinde durchzusetzen, allgemein Anerkennung verschafft. Franz Thoma tut sich mit dem neuen Bürgermeister naturgemäß leichter als mit den konservativen Vorgängern. Jetzt werden Dörfer elektrifiziert. Und die Förderung und Diversifizierung der kleinbäuerlichen Landwirtschaft wird mit EU-Mitteln unterstützt. Ackerbau und Viehzucht sind keine Branchen, die man automatisch mit einem Berliner Innenstadtbezirk assoziieren würde. So können die nächsten Kreuzberger Brigaden noch einiges dazulernen.