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: Reform mit Verfallsdatum

Es sollte der Tag des Kanzlers sein, da musste auch der eigene Finanzminister zurückstehen. Hans Eichel sagte seine Pressekonferenz ab und machte die Bühne frei für den aus Hannover zurückgekehrten Urlauber Gerhard Schröder. Morgens peitschte er die Reformbeschlüsse durchs Kabinett, mittags um eins beantwortete er demonstrativ entspannt die Fragen der Journalisten („Ich habe Zeit bis 16 Uhr“), und abends suchte er die sächsische Kleinstadt Grimma auf – jenen Ort also, an dem er vor einem Jahr die überaus nützlichen Bilder des „Machers“ Schröder produzierte.

 Doch statt der Flut, die der Wahlkämpfer einst so geschickt auf seine Mühlen leitete, findet der Kanzler dieses Jahr nur Dürre vor. Selten war ein Reformpaket zu dem Zeitpunkt, als es im Kabinett beschlossen wurde, schon so sehr Makulatur wie diesmal. Zwar mokierte sich Schröder gestern genüsslich über die zerstrittene Opposition, die sich zu allen zentralen Reformfragen erst selbst eine Meinung bilden muss. Aber bei wesentlichen Punkten geht der Riss mitten durchs eigene Lager – von den Kommunalfinanzen bis zur Steuerreform. Die Städte und Gemeinden, SPD-Bürgermeister eingeschlossen, kündigen vorsorglich einen „heißen Herbst“ an.

 Wenig ist geblieben vom reformerischen Pragmatismus der ersten rot-grünen Wahlperiode, als die frisch vermählten Koalitionäre überfällige Projekte wie Atomausstieg, Homoehe oder Zwangsarbeiter-Entschädigung auf den Weg brachten. All diese Vorhaben waren zwar hoch symbolisch, aber sie kosteten vergleichsweise wenig und betrafen nur begrenzte Interessengruppen. Dass die Reparaturarbeiten am Wirtschafts- und Sozialsystem ungleich schwieriger würden, war von Anfang an klar. Nicht nur weil hier alles mit allem zusammenhängt, sondern auch weil angesichts täglich wechselnder Vorschläge nur eines beim Endverbraucher ankommt: Die Politik will mir ans Geld.

 Die bloße Inszenierung Schröder’scher Tatkraft wird daher nicht verhindern können, dass die gestrigen Beschlüsse während des politischen Herbsttheaters im Bundesrat wieder zerlegt werden. Aber der Kanzler kann das endlose Hickhack um die Reformen nicht alleine der Opposition oder den verkrusteten Strukturen des deutschen Föderalismus anlasten. Mit seiner Stimmungspolitik, die statt klaren Zielvorgaben nur den Eingebungen des Tages folgt, lädt der Kanzler zu solcher Obstruktionspolitik geradezu ein. Und der psychologische Effekt, den die Steuersenkung für die Konjunktur bewirken sollte, ist durch die Debatte ohnehin verpufft. RALPH BOLLMANN