: Nicht für das Absolute gemacht
DAS SCHLAGLOCH VON KERSTIN DECKER
Niemand fragt, wo eigentlich die Italiener sind, wenn wir alle in Italien sind. Das ist die natürliche Ignoranz der Völker. Aber jetzt wissen wir es: Im Sommer sind die Italiener in Ägypten. Auf dem Sinai. Das Land, in dem einst Moses und die Kinder Israel 40 Jahre – oder waren es 60? – umherirrten, ist fest in italienischer Hand. Zumindest im Sommer.
Die zweitgrößte Sinai-Hauptgruppe bilden die Russen, weshalb man überall überlebensgroßen russischen Reklamen begegnet und Scharm al-Scheich ein bisschen aussieht wie Moskau. Wer fährt freiwillig im Juli nach Ägypten? 43 Grad im Schatten. 60 Grad in der Sonne. So verschieden die Nationen, so verschieden sind ihre Gründe. Vor allem aber, und das ist noch viel zu wenig bekannt, ist der Sinai im Juli eine einzige große Antwort auf die Frage: Was ist der Mensch und was soll aus ihm werden? Wir lernen, warum das faustische Streben nach dem Absoluten ein Irrtum ist. Warum Judentum, Christentum und Islam im Grunde dasselbe sind. Warum der Kommunismus gar nicht funktionieren kann.
Bei der anwesenden Unteruntergruppe der Deutschen handelt es sich in der Mehrzahl um Anhänger einer negativen Theologie des Klimas. Die Deutschen versuchen, eine negative Einstellung zur Sonne zu erwerben. Sie wollen, wenn sie wieder zu Hause sind, in den heimatlich sommerlich-spätherbstlichen Regenhimmel schauen und ohne Bedauern sagen können: Ist das heute wieder schön bewölkt! Es funktioniert wirklich. Noch beim Verlassen des Flugzeuges blickt der Sinai-im-Juli-Anfänger unwillkürlich auf die Düsen der Boeing, weil er bisher für kochend heiße Winde nur technische Ursachen kannte. Dann begreift er seine Situation. Dies hier ist eine finnische Sauna mit eingebauter Windmaschine, ohne Ausgang. Schon am dritten Tag schaut der Durchschnittsdeutsche in den makellos blauen Himmel über dem makellos blauen Meer und denkt: Hier fehlt was. Nach den nächsten drei Tagen kontrolliert niemand mehr morgens den Himmel, um zu sehen, wie das Wetter wird. Das ist ein anthropologischer Schock. Und man lernt, was nicht das unterkühlteste Pragmatismus-Seminar vermitteln konnte: Wir sind für das Absolute gar nicht gemacht. Nicht einmal für das absolute Wetter.
Der Sinai besteht aus 62.000 Quadratkilometer Nichts. Sagen die Puristen. 62.000 Quadratkilometer Steine. Steine nebeneinander, Steine übereinander. Aber was für Steine! Hier liegt das moralisch-sittlich-religiöse Urgestein der Welt.
Fast jeden Tag kurz nach Mitternacht ziehen von den küstennahen Luxushotels seltsame Bus-Karawanen in die Wüste. Sie wollen zu dem Berg, vor dem Gott einst eine der merkwürdigsten kommunikativen Situationen der Weltgeschichte schuf. Er sprach zu Moses durch den brennenden Dornbusch und vermachte ihm die Zehn Gebote – Ursprung aller Gesetzes-Religion. Der Dornbusch stand unten am Berg, aber den Moses-Wanderern von heute ist das egal, sie wollen auf den Berg. Dabei hätte Moses niemals den Ausgang zum Gelobten Land gefunden, wäre er zwischendurch noch auf Berge gestiegen. Und dieser hier ist über zweitausend Meter hoch. Man braucht schon starke Gründe, nachts um drei einen Berg von über zweitausend Metern zu besteigen. Aber es ist zu spät, darüber nachzudenken. Die Karawane ist unterwegs. Sie kommt sehr schnell vorwärts, denn jeder drängt jeden, und ab und zu stößt etwas von hinten. Ich drehe mich um und blicke sehr weit oben in ein ausdrucksvolles Philosophengesicht. Es gehört meinem Hintermann, einem Kamel, und in ihm steht die ganze Wahrheit: dass es keinerlei Grund gibt, nachts solche Riesenberge zu ersteigen. In den Augen der Beduinen steht dasselbe. Ihnen gehören die Kamele.
Die Beduinen sind noch nie aus der Wüste herausgekommen, aber man braucht ihnen den Westen nicht mehr zu erklären. Sie kennen ihn schon: Er muss sein wie diese nächtliche Karawane auf den Berg. Eine vollkommen grundlose, veritable Massenpsychose. Kurz vor sechs Uhr sitzen hunderte Europäer auf dem weit und breit höchsten Berg des Sinai mit einem Ausdruck zwischen Andacht und Erschöpfung. Beide sehen sich zum Verwechseln ähnlich. Andacht muss eine andere Form von Erschöpfung sein.
Es wird unmerklich heller. Die Europäer packen lauernd Fotoapparate und Videokameras aus und halten sie alle im selben Augenblick in die kaum aufgegangene Sonne. Wäre sie vor Schreck gleich wieder untergegangen – jeder hätte es verstanden. Die Beduinen wissen jetzt endgültig, warum sie nie aus der Wüste herauskommen.
Auch Moses hätte dieses heidnische Sonnen-Ritual verurteilt. Vor den ägyptischen götzendienerischen Sonnenanbetern, den Aton-Jüngern, sind die Kinder Israel schließlich geflohen. Aber kam nicht mit Moses das große Verurteilen in die Welt? Das „Urübelvolk“ nannte Heine, der Jude, die Kinder Israel, die aus Ägypten kamen, „dem Vaterland der Krokodile und Götter“. Und neben Geschlechtskrankheiten hätten sie eben auch die „positive“ Religion mitgebracht. Die „Menschenmäkelei“, Diesseitsverachtung, den Hang zu Vergeistigung und Märtyrertum. Das Christentum hat das perfektioniert. Für Heine waren Judentum und Christentum dasselbe. Und der Islam ist doch nur ein letzter Spross des Dornbuschs.
Der Dornbusch oder einer seiner Urenkel wächst seit 527 umgeben von hohen Klostermauern. Griechische Mönche von St. Katharina bewachen den Busch. Das müssen sie auch. Denn eigentlich gibt es gar keine Dornbüsche hier. Und wenn doch, fressen Kamele sie augenblicklich auf. Den einen müssen sie übersehen haben. Einer Unaufmerksamkeit der Kamele verdanken wir das Sittengesetz. Das ist die Dialektik der Weltgeschichte.
Die Wüste lebt. Bunter Abfall weht über das große Nichts, ab und zu liegt schwer ein wenig Sondermüll am Wege: tote Kamele. Beduinen sind keine Mülltrenner. Wahrscheinlich würden sie den Slogan „Nimm Rücksicht auf die Umwelt!“ niemals verstehen. In der rücksichtslosesten aller Umwelten haben sie sich häuslich eingerichtet. 62.000 Quadratkilometer Steine.
Aber das Reich der größtmöglichen aller Rücksichten beginnt gleich an seiner Grenze. Im Wasser. Man erkennt es auch daran, dass es keine vierzig Grad hat, sondern nur etwas über dreißig. Vielleicht haben wir bisher den falschen Leuten die Gesellschaftsentwürfe überlassen. Den Festlandslogikern. Noch Friedrich Engels dachte anhand eines Ameisenhaufens über die Natur des menschlichen Zusammenlebens nach. Das war grundfalsch. Man sollte die Taucher damit betrauen. Der wahre Kommunismus beginnt gleich unter der Wasseroberfläche. Ein Korallenriff-Kommunismus, ganz ohne Gesetzestafeln. Schon einen Zentimeter vom Strand ist der Wüstenwanderer akzeptiert als Fisch unter Fischen. Keiner weicht aus, jeder schwimmt seinen Weg mit so großer Bestimmtheit, als gäbe es nur diesen einen für ihn. Aber nie stößt einer mit dem anderen zusammen. Das absolute Reich der Freiheit ist unter Wasser. Und wer spricht von Gleichheit? Diese Kommune kennt nur ein Gesetz: die Verschiedenheit. Dies ist das Reich schillerndster Egozentriker.
Der Kommunismus ist eben doch eine Unterwassertatsache.