Cool trotz 260 Millionen Miesen

Im Zentrum des Dramas: In der Kämmerei der Stadt Hannover wird vielleicht klar, warum die Kommunen ständig über klamme Kassen stöhnen. Und warum sie auch mit der Reform der Gewerbesteuer nicht zufrieden sind

Mit kurzfristigen Kassenkrediten verbergen die Städte ihre „echten“ Schulden

aus HannoverKai Schöneberg

260 Millionen Euro Miese auf dem Konto – was manchem einen Schock fürs Leben einbringen würde, lässt Annemarie Loleit ziemlich kalt. Genau dieses Minus musste sie nämlich am vergangenen Freitag auf den Konten Hannovers feststellen – und handeln, das Geld borgen, weil die Stadt sonst pleite wäre. 260 Millionen Euro Miese. Das ist nichts Besonderes in Hannover – und kein Problem für Frau Loleit: „Wenn man solche Zahlen täglich hört, gewöhnt man sich daran.“

Wir sind in der Abteilung Kreditmanagement und Finanzierung der Kämmerei Hannovers, weil hier vielleicht einer der Orte ist, um zu verstehen, warum die Kommunen ständig über klamme Kassen stöhnen. Sozusagen in einem der Zentren des Dramas. Und vielleicht ist die Kämmerei auch der Ort, um zu verstehen, warum die Kommunen weiter stöhnen, obwohl doch mit der am Mittwoch von der Bundesregierung beschlossenen Gemeindefinanzreform alles besser werden soll.

„Unausgegoren“, hatte die CDU getönt, am Wochenende kündigte Niedersachsens Ministerpräsident Christian Wulff, der Parteivize ist, dann doch Kompromissbereitschaft an. Aber selbst Hannovers Kämmerer Stephan Weil, ein SPD-Mann, findet die Reform „völlig unzureichend“. Doch was heißt das? Wahrscheinlich werden noch mehr Bibliotheken und Schwimmbäder schließen müssen, Zuwendungen an Sozialhilfeempfänger, Jugendzentren oder Sportvereine weiter gekürzt werden, in Hannover, in Kiel, Bremen oder sonstwo. Auch wenn jetzt, so der Kern der Reform, Freiberufler zusätzlich Gemeindewirtschaftssteuern zahlen sollen. Der Grund: Auch das wird kaum im Ringen gegen die Miesen reichen. Durch die vorgezogene Steuerreform werden die Einnahmen auch bei den Kommunen weiter sinken.

Kirsten Bitsch hat zumindest „arge Zweifel, ob die Erweiterung der Steuerzahlerbasis den Schulden entgegenwirkt“. Sie sagt das vorsichtig. Um es zu erläutern, blättert die Leiterin des Bereichs Kreditmanagement in dicken Wälzern mit Balkendiagrammen, die am Ende immer steil nach oben steigen. „1999, vor der Expo, das war ein gutes Jahr“, sagt Bitsch. Damals hat Hannover nur Kassenkredite bis zu einer Höhe von 75 Millionen Euro in Anspruch nehmen müssen. Kassenkredite, das ist kurzfristig geborgtes Geld, das die Kommunen zum Ausgleich von Dellen im Konto für wenige Tage leihen – wie ein Dispo-Kredit sind die Kassenkredite eigentlich nur zum Überbrücken von Finanzengpässen da.

Inzwischen sind sie jedoch zum Dauerproblem geworden – und ersetzen sogar bisweilen die langfristigen Kredite. Damit verbergen die Städte ihre „echten“, nicht nur vorübergehenden Schulden. Das „echte“ Defizit Hannovers dürfte allein im nächsten Jahr 140 Millionen Euro ausmachen, insgesamt sitzt die Stadt derzeit auf 1,4 Milliarden Euro Schulden. Seit die Gewerbesteuer von den Gewinnen abhängig ist, werden die Dellen im Etat immer größer, auch die Fieberkurve der Kassenkredite schnellte hoch. Conti, Tui, VW, Banken und Versicherungen und auch die kleinen Firmen zahlen wegen der flauen Konjunktur – und weil sie Gewinne und Verluste verschiedener Standorte miteinander verrechnen – weniger Gewerbesteuer oder bekommen sogar etwas raus.

Schlecht für Hannover: Die Gewerbesteuer-Einnahmen der Stadt sanken letztes Jahr um 80 auf 220 Millionen Euro. Gleichzeitig stieg der Höchstbetrag bei den Kassenkrediten auf 384 Millionen. 2002 habe die Stadt noch der Verkauf der Aktien der Gilde-Brauerei an den belgischen Bierriesen Interbrew „gerettet“, meint Bitsch. Doch irgendwann ist alles Tafelsilber verkauft.

260 Millionen Miese. An diesem Freitag. Wenn das Geld nicht im Laufe des Tages gutgeschrieben wird, könnte Hannover keine Gehälter an Bademeister oder Kindergärtnerinnen mehr auszahlen, müsste die Unterstützung für Sozialhilfeempfänger einstellen und könnte kein Geld mehr an ihre Lieferanten überweisen. Damit die Kontodellen die Stadt nicht in den Ruin treiben, beschaffen Mitarbeiterinnen wie Frau Loleit täglich Geld. Viel Geld.

Heute, am Freitag, ist auch der Termin für die Gewerbesteuern. So wird bald wieder mehr Geld in der Kasse Hannovers sein. Loleit: „Nächste Woche sinkt das Minus vielleicht auf 160 Millionen.“ Jeden Morgen klappert sie Hannovers Hausbanken per Telefon ab, um sich nach dem günstigsten Zinssatz zu erkundigen. Für die Kassenkredite liegt der Satz derzeit zwischen zwei und 2,5 Prozent. Günstig, könnte man meinen. Aber die Gefahr, dass die Städte nicht zurück zahlen, ist gering. Deshalb genießt die öffentliche Hand ja auch praktisch unbegrenzte Kreditwürdigkeit. Schon mal eine Stadt tatsächlich pleite gehen sehen? Und auch das ist ein Problem.