: Patzend nach Athen
Bei der Weltmeisterschaft in Anaheim setzen die deutschen Turner ihre Reckübungen in den Sand, qualifizieren sich aber dennoch für Olympia
aus Anaheim JÜRGEN ROOS
Der Videowürfel schwebte über den Köpfen im Arrowhead Pond, groß und bedrohlich, wie ein Damoklesschwert. Dann leuchteten ein paar Buchstaben und Zahlen auf, und Ronny Ziesmer zückte seine Kamera, um ein Foto zu schießen, als wolle er für die Ewigkeit festhalten, was dort oben zu lesen war: „12. Germany 219.132“. Die Zahlenkombination beschrieb eine kleine sportliche Sensation: Die deutschen Turner hatten bei der WM mit 219,132 Punkten und Platz zwölf doch noch den Sprung zu den Olympischen Spielen im nächsten Jahr in Athen geschafft – obwohl sie tags zuvor nach einer ziemlich bescheidenen Vorstellung schon alle Hoffnungen aufgegeben hatten.
Dann kamen die Emotionen. Wolfgang Willam, der Sportdirektor des Deutschen Turnerbundes (DTB), umarmte den Chefbundestrainer Andreas Hirsch. Hirsch umarmte seinen Trainerkollegen Klaus Nigl und danach jeden Turner einzeln. Und der DTB-Präsident Rainer Brechtken klatschte begeistert in die Hände. „Ich habe es erst geglaubt, als es dort oben stand“, sagte Ronny Ziesmer, der Turner aus Cottbus. Sein Riegenkollege Thomas Andergassen atmete ganz tief durch. „Dieses Ergebnis ist genauso unglaublich wie unser Wettkampf“, sagte der Stuttgarter. Und sein Blick ließ erahnen, welche Last vor wenigen Sekunden von seiner Seele genommen worden war. Olympia ohne eine deutsche Riege? Das hatte es noch nie gegeben in der Geschichte. Es bleibt dabei.
Das „Wunder von Anaheim“ glich einem Spielfilm, bei dem es bis zum Ende nur zwei Möglichkeiten gab: Happyend oder völlige Katastrophe. Die Katastrophe war die wahrscheinlichere Variante. Der ein oder andere der Protagonisten dürfte die Vorstellung deshalb nur im Nebel mitbekommen haben: Der schlimme Wettkampf, bei dem die Turner vor lauter Nervosität fast alle Reckübungen in den Sand gesetzt hatten; die Pressekonferenz, bei der ausschließlich in Molltönen über die Zukunft des deutschen Männerturnens räsoniert wurde; der erste kleine Hoffnungsschimmer, als sich die fest als Olympiateilnehmer eingeplanten Weißrussen mit dem kaum messbaren Rückstand von zwölf Tausendstel Punkten hinter den Deutschen einreihten. Es folgte eine unruhige Nacht zwischen Selbstzweifeln und Fassungslosigkeit – und dann ein sonniger Morgen mit einer Schweizer Riege, die am Boden ihr Olympiaticket verspielte. Die italienische Mannschaft, die erst mit ihrer letzten Übung an den Deutschen vorbeizog. Und schließlich bulgarische Turner, die in Wirklichkeit nie eine Bedrohung, aber trotzdem gefürchtet waren, weil man ja so viel erlebt hatte in diesen 24 Stunden. Es war ein atemloser Wettkampf, in dem die deutschen Turner die größten Adrenalinschübe erlebten, als sie schon gar nicht mehr an die Geräte mussten.
„Das dürfen die Turner ihrem Präsidenten nicht mehr antun“, sagte Rainer Brechtken, der nach dem Patzerwettkampf noch ein düsteres Zukunftsbild für das deutsche Männerturnen gemalt, die Herabstufung der Förderstufe und die Einbuße von Geldern befürchtet hatte. Was kaum absehbare Folgen für Turner und Trainer in Deutschland gehabt hätte. Mit der Olympia-Qualifikation soll trotzdem nicht alles beim Alten bleiben. In zwei Wochen wird eine Arbeitsgruppe um den Cottbusser Exweltmeister Sylvio Kroll dem DTB-Präsidium ein Reformpapier vorlegen, der Präsident selber möchte schon im Herbst mit den Landesverbänden über weitere Strukturveränderungen verhandeln. Und Olympia steht ja auch schon fast vor der Tür. „Wir werden das Projekt Athen vorantreiben und erfolgreich abschließen“, sagte Sportdirektor Willam. Die Verwandlung, die mit den Herren im Verlauf des Tages vonstatten gegangen war, trug kafkaeske Züge. Wo gestern noch tiefe Lethargie herrschte, machte sich heute optimistische Aufbruchstimmung breit.
Und das alles nur, weil ein weißrussischer Turner nach einer Verletzung ausfiel und so den Weg frei machte für die deutsche Riege. Eine kleine Ursache, ein noch kleinerer Vorsprung, aber eine unglaubliche Wirkung. Eines allerdings vermerkten aufmerksame Chronisten zu Recht: Seit der deutschen Vereinigung, als die DTB-Turner noch für Medaillen gut gewesen waren, ist es in den vergangenen 13 Jahren stetig bergab mit dem Turnsport gegangen. Für den Chef-Bundestrainer Andreas Hirsch war die WM dennoch ein Erfolg. Er war mit dem Ziel in den USA angetreten, die deutsche Riege nach Athen zu führen. Der kleine Mann hat es geschafft – und in zwei Wochen wird auch niemand mehr fragen, wie.