: Edmund Stoibers straffer Staat
von RALPH BOLLMANN
Wenn es gegen Berlin und Brüssel geht, kann Bayerns Ministerpräsident Edmund Stoiber (CSU) gar nicht oft genug gegen den Zentralismus wettern. Da braucht der Bund nur über nationale Bildungsstandards nachzudenken oder ganz zaghaft in die Kulturpolitik einzusteigen – auf eines ist Verlass: Der Münchener Regierungschef sieht den Föderalismus in Gefahr. Kommt das Gespräch gar auf die Europäische Union, kennt der Bayer kein Halten mehr. „Überall mischt sich die Kommission ein“, schimpft er dann, „mit gewaltigem bürokratischem Aufwand und schädlichen Folgen.“
Es klingt, als beschriebe Stoiber seine eigene Rolle im weißblauen Reich zwischen Freilassing und den Vororten von Frankfurt, zwischen Bodensee und Böhmen. Kaum etwas entgeht dem Zugriff des peniblen Juristen, der von München aus die Fäden zieht. Ausgerechnet jenes Bundesland, das den Föderalismus nach außen hin am lautesten propagiert, ist nach innen so zentralistisch organisiert wie kein anderes.
Darin erweist sich Stoiber als gelehriger Schüler eines ungleich berühmteren Vorgängers. Graf Maximilian Josef von Montgelas, als leitender Minister von 1806 bis 1817 an den Schalthebeln der Macht in Bayern, hatte dem jungen Königreich seine zentralistische Verwaltung übergestülpt.
Fläche und Einwohnerzahl Bayerns hatten sich durch die napoleonischen Kriege binnen weniger Jahre verdoppelt. Beherrschten die Wittelsbacher – neben der entlegenen Rheinpfalz – zuvor nur das heutige Ober- und Niederbayern sowie die Oberpfalz, so galt es nun, rund 80 vormals selbstständige Territorien zu einem neuen Staat zusammenzuschmelzen.
Die protestantischen Untertanen der Markgrafen von Brandenburg-Ansbach oder Brandenburg-Bayreuth waren ebenso unter das katholische Münchener Joch zu zwingen wie die stolzen Bürger großer und kleiner Reichsstädte – darunter auch Metropolen wie Nürnberg und Augsburg, die dem verschlafenen München damals weit überlegen waren.
Das autonome Regensburg, zuvor als Sitz des Immerwährenden Reichstags immerhin eine von mehreren Hauptstädten der Deutschen, musste mit harter Hand an ein Dasein als bayerische Provinzstadt gewöhnt werden. Auch mit der barocken Prachtentfaltung der fürstbischöflichen Residenzen in Würzburg, Bamberg oder Passau war es nun vorbei.
Eine solche Vielfalt, davon war Montgelas überzeugt, ließ sich nur mit harter Hand beherrschen. Nach dem Vorbild der französischen Départements gliederte er das Land in dreizehn Kreise und tilgte damit selbst die alten Namen der Regionen. So fand sich Augsburg im „Lechkreis“ wieder oder Ansbach im „Rezatkreis“.
Zwar gab der spätere König Ludwig I. den nunmehr sieben Regierungsbezirken ihre bis heute bestehenden historischen Namen zurück, aber an der zentralistischen Verwaltung änderte sich dadurch wenig.
Der Bielefelder Historiker Hans-Ulrich Wehler bescheinigt dem Stoiber-Vorgänger Montgelas, unter den deutschen Reformpolitikern der napoleonischen Ära „wahrscheinlich der erfolgreichste“ gewesen zu sein – erfolgreicher sogar als der forsche Preuße Karl August von Hardenberg, den sich Kanzler Gerhard Schröder jüngst zum politischen Vorbild erkor. Der Erfolg hatte allerdings seinen Preis. Montgelas’ Politik endete „in einer bürokratischen, etatistischen Überzentralisation“, wie Wehlers verstorbener Kollege Thomas Nipperdey berichtete. Er musste es wissen, schließlich lehrte er in München.
Die Folgen spüren die Bewohner des Freistaats noch heute. Schon ein flüchtiger Blick auf die Karte zeigt, dass sich daran bis heute nichts geändert hat. Alle Autobahnen und Bahnlinien laufen schnurstracks auf München zu. Während die Betonpisten an Metropolen wie Berlin, Köln oder Leipzig geradewegs vorbeilaufen, führen sie in München direkt ins Zentrum. Dass jemand auf die Idee kommen könnte, an München einfach nur vorbeizufahren, erschien den Planern unvorstellbar. Erst nach jahrzehntelanger Planungszeit entstand eine Umgehungsstrecke.
Während andere Bundesländer ihre Verwaltungsorgane sorgsam nach Regionalproporz verteilen, konzentrieren sich in Bayern alle Behörden auf die Hauptstadt. Da mag Baden-Württemberg sein oberstes Verwaltungsgericht nach Mannheim verlegt haben oder Mecklenburg-Vorpommern sein Besoldungsamt ins verschlafene Neustrelitz – der Freistaat zeigt sich durch solche Versuche einer Dezentralisierung gänzlich unbeeindruckt.
Besonders krass ist das Missverhältnis im Kulturbereich, sonst eine bevorzugte Domäne regionaler Eifersüchteleien. Minister Hans Zehetmair (CSU) gibt jeden zweiten Euro aus seinem Kunstetat in der Hauptstadt aus. In München unterhält er gleich drei riesige Gemäldesammlungen, zwei Musiktheater und ein Schauspielhaus.
Ein Theater finanziert er im ganzen Rest von Bayern überhaupt nicht, mit der einzigen Ausnahme des bescheidenen Coburger Landestheaters – und auch das nur unfreiwillig: Die einst thüringische Kommune trat dem Freistaat 1920 nur unter der wohl durchdachten Bedingung bei, dass die neuen Herrscher „auf alle Zeiten“ für das Kulturleben der einstigen Residenz aufkämen.
Reist Zehetmair durch die Lande, kann es ihm schon mal ergehen wie jüngst bei einer Veranstaltung in Würzburg. „Gib die fränkische Beutekunst zurück“, verlangten Demonstranten vom Minister. Gemeint waren all jene Bilder und Altäre, die das Haus Wittelsbach einst den Münchener Gemäldesammlungen einverleibte.
Eine deutliche Sprache sprechen auch die handfesten Zahlen aus der Wirtschaftswelt. In München erreichte das Bruttoinlandsprodukt im Jahr 1998, für das eine vergleichende Statistik vorliegt, mehr als 60.000 Euro je Einwohner – ein bundesweiter Spitzenwert. Im fränkischen Landkreis Schweinfurt betrug die Wertschöpfung dagegen nicht einmal 13.000 Euro pro Kopf – eine Zahl, die von sämtlichen ostdeutschen Bundesländern mühelos übertroffen wird.
Nicht geringer fallen die Gegensätze auf dem Arbeitsmarkt aus. Im Münchner Vorort Freising sind nur 3,2 Prozent der Erwerbsfähigen ohne Job, in Hof dagegen – wiederum in Franken – liegt die Quote mit 10,4 Prozent mehr als dreimal so hoch. Von den 67 größten Unternehmen Bayerns, so rechnet der SPD-Landtagsabgeordnete Heinz Kaiser vor, haben 42 ihren Sitz in der Region München. Seit der Einführung der Green Card erteilte das dortige Arbeitsamt mehr als 2.000 Bewilligungen, die Behörde im oberpfälzischen Weiden dagegen nur eine einzige.
Schon die Studenten zieht es überwiegend in die Hauptstadt. An den acht Universitäten in der bayerischen Provinz, einst als Instrument der Regionalpolitik gegründet, sind insgesamt gerade 70.000 Zöglinge eingeschrieben. Keine dieser Hochschulen kann auch nur annähernd mit den Münchener Universitäten konkurrieren, die es zu zweit auf eine fast genauso hohe Studentenzahl bringen.
Bei einem solchen Andrang verwundert es kaum, dass sich auch die Preise so krass unterscheiden wie sonst nur in Zentralstaaten à la française. Während in München eine Wohnung selbst in schlechtester Lage kaum noch für eine Kaltmiete von weniger als 10 Euro je Quadratmeter zu bekommen ist, zählen die Immobilienpreise im Norden und Osten des Landes zu den günstigsten in ganz Westdeutschland. Während die Maß Bier in Münchner Biergärten schon mal 7 Euro kosten kann, addieren sich zwei halbe Liter in ländlichen Gegenden Frankens oder der Oberpfalz bisweilen auf weniger als 4 Euro.
Alle Versuche einer zaghaften Dezentralisierung haben, ähnlich wie in Frankreich, an der Fixierung auf die Hauptstadt nichts ändern können. Entsprechende Initiativen der Staatsregierung seien „undurchdacht und allenfalls symbolisch“, klagt etwa Sepp Dürr, Chef der grünen Landtagsfraktion.
So sei die Osteuropaforschung jetzt in Regensburg konzentriert, obwohl Tschechen oder Russen viel lieber nach München kämen. Handstreichartig habe der Ministerpräsident beschlossen, künftig das Nürnberger Theater zu bezuschussen – während das Haus in Würzburg weiter ums Überleben kämpft.
Eine „Abkehr von der bisherigen Symbolpolitik“ verlangt auch SPD-Wirtschaftspolitiker Kaiser. Stoibers sporadische Initiativen hätten „an der höchst ungleichen Wirtschaftskraft nichts geändert“. Es gelte weiterhin: „Der Süden boomt, der Norden bleibt strukturschwach.“
Zum zentralen Wahlkampfthema will allerdings keine der beiden parlamentarischen Oppositionsparteien den Münchener Zentralismus erheben. Zu sehr ist er 200 Jahre nach Montgelas in der politischen Kultur des Freistaats verankert. Eine wahre Herzensangelegenheit ist das Thema nur für Splittergruppen wie die öko-konservative ÖDP oder den „Fränkischen Bund“, der schon seit Jahren vergeblich nach einem eigenen Bundesland Franken ruft.
Auf der Ebene der politischen Organisation geht der Trend derzeit eher in die entgegengesetzte Richtung. Bislang haben die sieben Bezirke zwar wenig Kompetenzen, aber immerhin – ein Unikum in Deutschland – demokratisch gewählte Parlamente. Doch vor einigen Jahren entdeckte eine überraschte Öffentlichkeit, dass die Abgeordneten ihre Zeit mangels anderer Aufgaben vorzugsweise für Dienstreisen mit Vergnügungscharakter nutzten. Seither wird sogar über die Abschaffung der dezentralen Gremien debattiert.
Wer als Franke oder Oberpfälzer noch auf eine Wende zum Besseren hofft, sollte lieber gleich in Stoibers Staatskanzlei anrufen – um sich die letzten Illusionen nehmen zu lassen. „Zentralismus?“, heißt es dort auf Nachfrage verständnislos, „wo gibt es denn in Bayern Zentralismus?“