: Karl und die Ich-AGs
Marx ist wieder da! Oder war er nie weg? Sogar eingefleischte Kapitalisten behaupten, seine Theorie liefere die „beste Sicht auf den Kapitalismus“. Über eine Renaissance und ihre Hintergründe
von ROBERT MISIK
Es ist auf dem ersten Blick ein höchst bizarrer Vorgang: Am Beginn des 21. Jahrhunderts, 120 Jahre nach seinem Tod und eine gute Dekade nach dem Kollaps jener Regime, die sich auf Marx’ System berufen hatten, scheint eine neue Marx-Renaissance bevorzustehen. Ausgerechnet in seiner Christmas-Special-Ausgabe von Dezember 2002 kam der britische Economist – gleichsam das Zentralorgan der Freunde der kapitalistischen Produktionsweise – zu dem erstaunlichen Schluss: „Als eine Regierungsform ist der Kommunismus tot. Aber als ein System von Ideen ist seine Zukunft gesichert.“ Marx habe immer noch ungebrochenen Einfluss und der, so das unerwartete Urteil der britischen Radikalliberalen, komme ihm auch zu, trotz aller Fehler und Irrtümer.
Bereits zur Jahrtausendwende hatte eine Umfrage der BBC, wer denn der bedeutendste Mann oder die bedeutendste Frau des Millenniums sei, ein recht überraschendes Ergebnis erbracht. In der Kategorie „größter Denker“ lag Marx klar vorne – gefolgt von Einstein, Newton und Darwin. Und der New Yorker hatte schon 1997 prophezeit, Karl Marx werde bald wieder ganz en vogue sein, ihn in einer Sonderausgabe gar zum „nächsten großen Denker“ erklärt. „Je länger ich an der Wall Street bin, desto stärker wird meine Überzeugung, dass Marx Recht hatte“, urteilte ein reicher Investmentbanker und fügte hinzu: „Ich bin absolut sicher, dass Marx die beste Sicht auf den Kapitalismus hatte.“
Marx ist ganz offenbar nicht totzukriegen. Kapitalisten empfehlen anderen Kapitalisten, Marx zu lesen – ganz abgesehen von den gut situierten jungen Leute aus besten Verhältnissen, die gegen einen zunehmend entgrenzten, beschleunigten, globalisierten Kapitalismus rebellieren, Innenstädte in Trümmer legen, „eine andere Welt ist möglich“ oder „Capitalism kills“ rufen und freihändig mit Marx-Bruchstücken jonglieren.
Will man sich einem Verständnis nähern, ist es wohl nicht dabei getan, darauf hinzuweisen, dass Marx’ Analysen die „beste Sicht“ auf den Kapitalismus liefern, ebensosehr würde zu kurz greifen, den Autor von „Manifest“ und „Kapital“ allein seiner weitblickenden Prognosen kapitalistischer Globalisierung wegen zu preisen – beides würde doch auf ein Lob für eine dürre, kritikfreie „Analyse“ hinauslaufen. Doch diese Analyse ist ohne Kritik nicht zu haben – auch da, wo Marx die Akteure in neutralen Farben schildert.
Bereits im Vorwort zum „Kapital“ stellt Marx „zur Vermeidung möglicher Missverständnisse“ fest: „Die Gestalten von Kapitalist und Grundeigentümer zeichne ich keineswegs in rosigem Licht. Aber es handelt sich hier um die Personen nur, soweit sie die Personifikation ökonomischer Kategorien sind.“ Das Kapitalverhältnis hat sich längst zur subjektlosen Macht über die Subjekte aufgeschwungen und gerade deshalb die relative Freiheit der bürgerlichen Gesellschaft begründet, weil es personaler Macht nicht mehr bedarf. „Raubt der Sache diese gesellschaftliche Macht und ihr müsst sie Personen über Personen geben“, proklamierte Marx bereits in den „Grundrissen“; in der bürgerlichen Gesellschaft ist „persönliche Unabhängigkeit auf sachlicher Abhängigkeit gegründet“.
Für einen Marxismus der dummen Kerls, der „den Kapitalisten“, oder auch der „bösen“ WTO oder dem „Amerikanismus“ als lokal verortete Heimat des geistlosen Kommerzes alle Schuld zuschiebt, ist da kein Platz. Aber freilich auch für neutrale Abstraktion nicht. Denn was hier subjektlos prozessiert, ist aus Marxens Sicht ein Ungeheuer.
In der zweiten Hälfte des „Kapitals“ zeichnet Marx kunstvoll nach, wie aus den Prozessen, die das Kapitalverhältnis in Gang setzt, eine gleichsam automatische Welt erwächst, eine Welt-Maschine, die jeden und alle an sich anschließt und die vom Großen bis zum Kleinen die Subjekte zu Räderwerken der Kapitalverwertung macht. Die Warenproduktion zwingt, wo die Lohnarbeit allgemeine Basis ist, „sich der gesamten Gesellschaft auf“. Doch so wie die kapitalistische Welt als Monster, als toter Mechanismus unabhängig von den Akteuren seine Prinzipien hinter deren Rücken vollzieht und sie sich als lebendige Anhängsel einverleibt, so wird in der kapitalistischen Fabrik der „Automat selbst das Subjekt, und die Arbeiter sind nur als bewusste Organe seinen bewusstlosen Organen beigeordnet“.
Mit der äußeren Landnahme der warenproduzierenden Gesellschaft findet eine innere Kolonisation statt, werden menschliche Bedürfnisse zurechtgebogen, diszipliniert, an das fabrikmäßige Funktionieren angeschlossen, die Menschen buchstäblich hergerichtet. Noch die Befreiung von äußeren Reglementierungen, wie wir sie im neuesten, flexiblen Kapitalismus erleben, bestätigt diesen Prozess, setzt dieser doch ein innerlich abgerichtetes – oder, um es mit einem modernen Wort zu sagen: formatiertes – Unternehmer-Individuum voraus: Die Subjekte müssen nicht mehr an der kurzen Leine gehalten werden, schließlich produziert die Produktion seit fast 200 Jahren „nicht nur einen Gegenstand für das Subjekt, sondern auch ein Subjekt für den Gegenstand“.
Mit einer solchen Deutung kann man längst in die Popcharts kommen. „Es war im Ausverkauf im Angebot die Sonderaktion“, heißt es im Hit „Guten Tag“ der Band Wir sind Helden. Und weiter singt die deutsche Popgruppe der Stunde: „Tausche blödes altes Leben gegen neue Version / Ich hatte es kaum zu Hause ausprobiert, da wusste ich schon / an dem Produkt ist was kaputt – das ist die Reklamation / – Guten Tag, ich will mein Leben zurück.“ Das ist die Popversion der Marx’schen „realen Subsumtion“, für die die Teenies offenbar einen wachen Instinkt haben – eine Fantasie von einem Kreativitätsversprechen, das in der kapitalistischen Maschinerie nicht einzulösen ist.
Marx war konsequent davon überzeugt, dass die bürgerlichen Eigentumsverhältnisse, über zwei Jahrhunderte „Entwicklungsformen der Produktivkräfte“, bald „in Fesseln derselben“ umschlagen würden. Denn der Kapitalismus verfeinert zwar die gesellschaftliche Arbeitsteilung, kombiniert immer kompliziertere Wirkungen von „kombinierter Arbeit“, wird aber daran scheitern, die Chancen, die dies bietet, zu nützen. Das Konkurrenzprinzip verträgt sich nicht mit der kooperativen Arbeit.
Dies ist von nahezu zwingender Logik – und erwies sich doch als unwahr. Heute, nachdem die kapitalistische Wirtschaftsform den Sprung von der industriellen Massenproduktion in das informationstechnologische Zeitalter geschafft hat, in der Epoche von Wissensarbeit, Computerisierung, mikroelektronisch gesteuerter Produktion, von Gentech und Internet würde kaum jemand weiter voraussagen, der Kapitalismus würde unfähig zur Innovation. Ja, mehr als das: Dieser Kapitalismus erweist sich gar als fähig, alle Kreativität dieser Wissensarbeiter schonunglos auszubeuten und sogar deren rebellische Impulse, deren Widerborstigkeit sich als produktive Kräfte zu integrieren; er zwingt sie in das Netz kooperativer, eigenverantwortlicher Arbeit, das freilich vom Lohn-, Konkurrenz- und Wertprinzip eingefärbt bleibt. Selbst aus der Konsumkritik wird ein Konsumartikel. Dass dieser Kapitalismus an seiner Unfähigkeit, selbstverantwortliche Arbeit kooperativ zu organisieren, scheitern würde, wäre heute eine gewagte These: erweisen sich nicht große Firmen, die Freiberufler der Ich-AGs und, beispielsweise, Software-Programmierer als durchaus routiniert, Arbeit zwischen New York, Ulm und Bangalore in Sekundenschnelle zu kombinieren, neu zusammenzusetzen und kreativ zu gestalten?
Und dennoch, das ist die große Paradoxie, darum haben die Economist-Leute in einem Sinne Recht, der sie nicht freuen wird, konspirieren die Verhältnisse gegen die Verhältnisse, produzieren sie die rebellischen Energien immer mit. Denn wenn gilt, dass der entgrenzte, raffinierte, auf Wissen basierende Kapitalismus den Eigensinn der Subjekte noch für sich produktiv zu machen versteht, so gilt damit auch umgekehrt, dass er diesen Eigensinn auf immer erweiterter Grundlage produziert. Der Kapitalismus scheitert zwar nicht, wie Marx dachte, weil er die Kreativitäten, die er zu wecken vermag, nicht zu nützen verstünde, aber er schafft, gerade weil er sie zu wecken, zu hegen und zu pflegen versteht, ein emanzipatorisches Potenzial – in Gestalt des Eigensinns der Vielen. Eine Vielzahl vom Menschen, die gewiss nicht viel vereint, die aber doch eine Vorstellung von „Erfolg“ haben, welche sich simplen pekuniären Rationalitäten entzieht, von „Würde“ und von Selbstbestimmung. Eigensinnigkeiten, die im strengen Sinn von den Verhältnissen selbst geschaffen werden.
Die innere Dynamik des Kapitalismus schafft die Voraussetzung jener Ideen von Autonomie, welche sich an den Realitäten von Produktion, Organisation, Kapitalverhältnis und Herrschaftsstrukturen immer wieder brechen. Mit vielfachen Ergebnissen: Frustrationen, gescheiterten Rebellionen und gebeugten Existenzen, aber auch spielerischen Erfindungen neuer Lebenszusammenhänge – durch die Jungen, die „ihr Ding“ machen –, Verweigerungsversuchen, Ich-AGs und Lebenskünstlern. Die materielle Bewegung „macht“ die Subjekte und vermag sie dennoch nicht völlig widerspruchsfrei an sich anzuschließen. Wie ein unausrottbarer Kern sitzt das emanzipatorische Potenzial in dem paradoxen Raum, den dieser Kapitalismus aufspannt.
Vom Autor ist soeben der Einführungsband „Marx für Eilige“ erschienen (Aufbau Verlag, 7,95 €)