: Vertrauen und Anspruch
Die Stiftung Ann und Jürgen Wilde macht die Pinakothek der Moderne in München zu einem ernst zu nehmenden Institut der Forschung über die künstlerische Fotografie des 20. Jahrhunderts
VON IRA MAZZONI
Die rheinische Kulturpresse lamentiert: Mit der Sammlung Wilde verliere das Rheinland nach der Sammlung Brandhorst 1999 und der Sammlung Stoffel 2006 nun den dritten Kunstschatz an München. Aber gerade im Fall der herausragenden Fotosammlung von Ann und Jürgen Wilde sollte der Lokalpatriotismus zurückstehen. Zu klagen hätte zuallererst das Sprengel-Museum in Hannover. Denn dort befand sich seit 1999 ein Großteil der Sammlung Wilde als Dauerleihgabe. Nur leider fehlten dem Museum die Mittel, Sammlung, Archive und die von den Stiftern ausdrücklich gewünschte Forschungsstelle unter einem Hut zu bringen.
Seit langem war bekannt, dass die Wildes sich nach einer neuen Heimstatt für ihr Lebenswerk umsehen. In Bonn war ein grandioses „NRW-Forschungszentrum Fotografie“ geplant, das genauso utopisch blieb wie ein Deutsches Zentrum für Fotografie in Berlin.
Die Geschichte der Musealisierung von künstlerischer Fotografie in Deutschland hat ihre eigene Tragik. Dass sich nun die junge Pinakothek der Moderne verpflichtet hat, die Sammlung des Ehepaars Wilde wissenschaftlich und publikumswirksam zu pflegen, kommt fast einer Wiedergutmachung gleich. Denn am Anfang der Wilde’schen Fotoleidenschaft stand der Nachlass des Münchner Kunst- und Fotohistorikers Franz Roh, der anlässlich der Werkbundausstellung „Film und Foto“ 1928 zusammen mit Jan Tschichold den Bildband „foto-auge“ ediert hatte. Nach Moholy-Nagys drei Jahre zuvor publiziertem Buch „Malerei, Photographie und Film“ der wichtigste Einstieg in die neue, kunstbewusste Fotografie. Roh verschrieb sich der Theorie der Lichtbildkunst, plante mit dem Verlag Klinkhardt & Biermann eine Buchreihe „Fotothek“, in der bis 1933 nur zwei Bildbände mit je 60 Arbeiten von Aenne Biermann und László Moholy-Nagy erscheinen konnten.
Roh knüpfte Kontakte zu Max Burchartz, El Lissitzky, Max Ernst, Albert Renger-Patzsch und Alexander Rodtschenko; Ernst Scheel und Moi Ver schickten ihm Fotos, in der Hoffnung auf eine Monografie. Die Nazis machten Rohs weitreichende Pläne zunichte. Als mutiger Anwalt der sogenannten entarteten Kunst kam der Kunsthistoriker in Dachauer „Schutzhaft“. Auch nach seiner Entlassung ließ ihn das Regime nicht unbehelligt. Dennoch: Die gesammelte Foto-Avantgarde entging den Hausdurchsuchungen. Nach dem Krieg gehörte Roh zu den Protagonisten, die sich für die abstrakte Kunst genauso wie für die neue, „subjektive“ Fotografie starkmachten.
Als jedoch Rohs Witwe 1965 versuchte, den umfangreichen Fotonachlass gebührend unterzubringen, fand sie keinen Interessenten, weder in München noch in Köln. Dort hatte sich Juliane Roh an Fritz Gruber gewandt, der damals als Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Photographie auch mit dem Aufbau einer Fotosammlung betraut war und darüber hinaus die Photokina-Bildschauen der Kölner Messe arrangierte.
Gruber lehnte ab, der Fotograf Wilde, damals für die Photokina-Bilderschau bei der Messe Köln angestellt, entschied sich nach kurzer Rücksprache mit seiner Frau, den Nachlass Franz Roh zu kaufen. Zunächst vor allem an den zahlreichen Fotoalben des 19. Jahrhunderts interessiert, erhielt das Paar Wilde mit der spontanen Erwerbung einen verlässlichen Kompass für die Navigation durch ein bis dato nahezu unbekanntes Gebiet: die künstlerische Fotografie der 20er- und 30er-Jahre – darunter 110 Originalfotografien von Moi Ver für das Buchprojekt „Ci Contre“ und dicke Mappen mit Aufnahmen unter anderem von Hans Finsler und Piet Zwart. Noch 1965 knüpften die Wildes Kontakt zu der Witwe von Albert Renger-Patzsch. 1974 gelang es dem Paar, Germaine Krull im indischen Dehradun ausfindig zu machen. Von Karl Blossfeld spürten sie bis dato unbekannte eigenhändige Abzüge auf.
Die Kuratorin Inka Graeve Ingelmann hat die Geschichte der Wildes in langen Interviews von 1997 bis 1999 recherchiert und im Rahmen der Ausstellung im Sprengel-Museum „Mechanismus und Ausdruck“ – Franz Rohs Aufsatztitel aus „Foto-Auge“ aufgreifend – publik gemacht. Graeve Ingelmann ist es auch, die als Kuratorin der Abteilung Fotografie der Pinakothek der Moderne nicht nur die Generaldirektion der Pinakotheken, sondern mit ihr die bayerischen Ministerien von der Notwendigkeit überzeugte, den Archiven und der Sammlung Wilde in München eine Zukunft zu geben.
Die neue Stiftung Ann und Jürgen Wilde umfasst die seit 1991 als nationales Kulturgut anerkannten Archive von Karl Blossfeld und Albert Renger-Patzsch mit mehr als 4.000 Originalabzügen, 10.000 Glasplatten sowie dazugehörenden Schriftstücken. Bedeutende Werkgruppen von August Sander, Germaine Krull, Man Ray, André Kertész, Florence Henri und Friedrich Seidenstücker gehören zu der Sammlung der Klassischen Moderne. Häufig in Korrespondenz zu dem wiederentdeckten Bilderbe der Avantgarde stehen die Erwerbungen zeitgenössischer Fotografie von Bernd und Hilla Becher, Lee Friedlander, David Hockney.
Mit der mutigen Gründung einer ersten spezialisierten Fotogalerie 1972 in Köln trugen die Wildes ganz wesentlich dazu bei, dass die Kunstform Anerkennung fand. Zu den von der Galerie geförderten Künstlern gehörten die Amerikaner Ralph Gibson und Duane Michals und das Berliner Fotografenpaar Gabriele und Helmut Nothhelfer. Serien und inszenierten Sequenzen galt die besondere Aufmerksamkeit der Wildes. Schon 1976, resümierte Jürgen Wilde, hätte der zusammengetragene Bilderschatz ausgereicht, eine Museumsabteilung für Fotografie zu gründen. Der Schwerpunkt Foto der documenta 6 unter Leitung von Klaus Honnef und Evelyn Weiss wäre ohne die Unterstützung der Wildes nicht machbar gewesen. Dem damals eklatanten Wissensdefizit begegnete das Sammlerpaar mit dem Aufbau einer Spezialbibliothek – auch diese ist Inhalt der Münchner Stiftung. Darüber hinaus bereicherten die Wildes als Editoren und Kuratoren die Kunstgeschichte der modernen Fotografie.
Wenn die Pinakothek der Moderne jetzt die Stiftung übernimmt, erhält sie nicht nur ein solides historisches Fundament für eine spät begonnene Sammlung zeitgenössischer Fotografie seit 1970. Sie erhält auch den Auftrag, Archive, Sammlung und Bibliothek der Forschung zugänglich zu machen. Ein entsprechender Studiensaal muss eingerichtet werden, die Depots müssen fototauglich aufgerüstet werden. Eigentlich ist die Erweiterung des Museumskomplexes, dem immer noch nicht die grafische Sammlung inkorporiert wurde, nun unabdingbar. Ab April bekommt die Stiftung Ann und Jürgen Wilde eine eigene Kuratorin. Es wird in München ein Forschungsinstitut für Fotografiegeschichte geschaffen. Allein dies ist Grund genug, in der ganzen Republik freudig gestimmt zu sein.
Wer schon einmal Vorfreude auf die zukünftigen Münchner Möglichkeiten entwickeln und die Sammlung Wilde kennenlernen möchte, der sollte sich die von Inka Schube zusammengestellte Schau „Fotografie trifft Malerei“ im Sprengel-Museum Hannover nicht entgehen lassen, die am 15. Februar eröffnet wurde.