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Archiv-Artikel

„Muße ist ein Bildungsziel“

Das Schuljahr hat begonnen. Doch wie fit ist Bildungssenator Klaus Böger? Zeit für eine Sprachstandserhebung, Zeit für eine Partie Schulscrabble

Interview SUSANNE LANG

Runde eins: Klaus Böger beginnt. Auch wenn er am liebsten mit Freunden Doppelkopf spielt, legt er beim Scrabble gleich gut los: Mit einem Joker.

Klaus Böger (nach einigen Seufzern und der Anmerkung, dass ihn das fix und fertig mache): Ich krieg schon ein Wort hin. Setzen wir es mal in die Mitte: Das Wort heißt Muße.

Was hat das mit Ihrem Aufgabenbereich zu tun?

Muße im Sinne von Besinnung und Nachdenken ist ein erstrebenswertes Ziel von Bildung.

Kann man das an Berliner Schulen lernen?

Es ist sicherlich schwer, aber man sollte es anstreben. „Muße“ ist vielleicht ein altmodisches Wort für den heutigen Begriff „Freizeitaktivität“. Ich hätte noch lieber – aber was man lieber macht, zählt ja nicht – das Wort „Musik“ gelegt. Kunst und Musik sind persönlichkeitsbildend.

Zweite Runde, die taz ist am Zug. Ein schwerer Wurf. Böger souverän: „Tja. Sie können ja auch anlegen. Wie wäre es mit Bild?“ Vorschlag wird abgelehnt. Bild hilft nicht weiter. Gelegt wird „Fibel“. B/öger zeigt sich anerkennend: „Genau. Toll, das ist optimal.“

Weshalb ist Fibel optimal?

Bei allem Respekt vor Computern und Internet, ein Buch ist für mich das zentrale Medium, das Bildungsprozesse, Fantasie und Freude am Lesen vermittelt.

Wie wollen Sie das bildungsfernen Elternhäusern vermitteln?

Das ist ein großes Problem. Generell ist es schwer, dort Interesse für Bildung zu vermitteln. Aber ich glaube, dass das Buch da nicht im Wege steht, sondern hilft. Das müssen auch Schulen vermitteln, und das tun sie ja auch.

Waren Sie selber ein Vorleser?

Ja, ich habe meinen Kindern köstliche Bücher über Fischfänger und andere Abenteuergeschichten vorgelesen.

Auch Grimms Märchen?

Nur zum Teil. Damals galt ja die Ansicht, dass sie zu grausam seien.

Hat Sie Thilo Sarrazins Äußerung geärgert, dass Berlins Kinder noch nicht mal Märchen kennen würden?

Zu emotionalen Ausbrüchen neige ich, wenn meine Kollegen bei Bildungsfragen ihre konkrete Alltagserfahrung verallgemeinern. Da explodiere ich. Mich ärgert, wenn etwa individuelle Erfahrungen mit schulpflichtigen Kindern als Rechtfertigung genommen werden, um zu kürzen und zu sparen.

Sie müssen froh sein, wenn nicht weiter gekürzt wird. Hat Bildung trotzdem noch Priorität?

Bildungsprozesse brauchen einen langen Atem und qualifiziertes Personal. Der Haushalt dagegen wird nur in Jahresfristen geplant. Beispiel Tarifverträge. Da ist die Grundphilosophie: „Weniger Geld gibt weniger Arbeit.“ Die ist für Bildungsprozesse schon falsch. Der Zwang im Senat, Personalkosten einzusparen, ist aber da. Manchmal komme ich mir vor wie in einer mittelalterlichen Folterkammer, wo sie von beiden Seiten an mir ziehen. Einerseits das berechtigte Ziehen der an Bildung Interessierten, die fordern, dass ich sie stütze, und auf der anderen Seite ziehen Sarrazin und auch meine Einsicht, dass wir sparen müssen.

Wer ist denn der nervigste Zieher an der Streckbank: die Eltern, die Lehrer oder der Finanzsenator?

Die Eltern fast überhaupt nicht. In den meisten Punkten sind sie eine große Unterstützung. Bei den Lehrern ist das zwiespältig. Manchmal könnte man das Gefühl haben, sie praktizieren eine Art Selffullfilling Prophecy. Weil sie so lange schon klagen, nehmen es viele nicht mehr ernst, wenn sie es berechtigt tun. Und ich bestreite nicht, dass dieser Punkt in manchen Schulen erreicht ist. Wer spricht denn über die LehrerInnen in Nordneukölln, die in einer Schule sind mit 80 Prozent Schülern nichtdeutscher Herkunft und bildungsfernen Schichten?

Was tun Sie für die LehrerInnen in Nordneukölln?

Wir unterstützen Schulen in sozialen Brennpunkten mit zusätzlichem Personal, um die Klassen zu verkleinern. Wäre ich nicht durch ein anderes Streckbett, das Beamtenrecht, gebunden, würde ich Arbeitszeiten ganz anders ordnen.

Was sagen Sie den Lehrern, die sich durch zunehmende Tests kontrolliert fühlen?

Das ist ein klassischer Denkfehler. Es ist die größte Schwäche im Selbstverständnis von Lehrern, dass sie Vergleichsarbeiten und Standards nicht als Stärkung und Messinstrument für den Erfolg ihrer Arbeit sehen. Hier hat aber bei vielen ein Umdenken stattgefunden. Wir brauchen diese – wie Sarrazin es nennen würde – Output-Orientierung.

Die er zu gering findet.

Da stimme ich ihm zu, das ist auch keine Erfindung von ihm. Wir haben die beste Lehrer-Schüler-Relation und bei Pisa trotzdem nicht die besten Ergebnisse. Natürlich muss man die sozialen Bedingungen berücksichtigen, aber man kann diese Tatsache nicht bestreiten.

Nächste Runde, Böger will sechs neue Steine nehmen, bekommt aber nur vier. Er überlegt. „Sehen Sie da was? Ich nicht.“ Die taz wünscht sich LER. „Na gut.“

Warum gelingt es in Berlin nicht, das Fach „Lebenskunde, Ethik, Religion“ [LER] wie in Brandenburg einzuführen?

Es gibt zu viele Rechtsdogmatiker auf beiden Seiten. Einmal die Kirchen, die das nicht wollen, zum anderen auch den humanistischen Verband. Dogmatiker sind ebenso in den politischen Gruppierungen vertreten.

Wäre es nicht wichtig, dass Sie das aufbrechen?

Bei diesem Aufbrechen bin ich schon mehrmals eingebrochen. Als ich versucht habe, neue Rechtsformen zu finden, habe ich Prozesse gegen die Islamische Föderation verloren. Das ist aber nicht die Kardinalfrage unseres Bildungssystems. Und ich habe noch ein paar andere Probleme.

Die Islamische Föderation an Schulen ist aber doch kein kleines Problem?

Sie sagen es. Wie der Zentralrat der Muslime in Deutschland auch fordert: Wir brauchen einen weltlichen Islamkundeunterricht und müssen verhindern, dass Gruppierungen wie die Islamische Föderation Unterricht erteilen. Nur: Wenn sie vor Gericht Recht bekommen, dann muss ich das akzeptieren. Aber meine politische Auffassung hat sich überhaupt nicht geändert. Ich kann nur auf das neue Schulgesetz verweisen, das auch dort eine Möglichkeit bietet, parlamentarisch Verbesserungen durchzusetzen.

Wenn es 2004 in Kraft träte, wäre das ein Erfolg für Sie.

Das wäre ein Erfolg für die Berliner Schule.

Vor einem Jahr hatten Sie noch den Beinamen „Senator tatenlos“? Woher kommt Ihr plötzlicher Tatendrang?

Das war eine Schlagzeile in der taz. Mein Eindruck ist das nicht. Ein neues Gesetz braucht eben Zeit. Ich war immer tatenfreudig und habe mich nie hier aufs Sofa gelegt und den lieben Gott gebeten: Gib mir doch was zu tun!

Das mag sein, aber Sie waren ja auch schon vor Pisa Senator. Stimmt der Eindruck, dass Sie aufgeweckt wurden?

Der Weckruf hat alle ereilt. Ich habe einiges dazugelernt. Wir haben etwas verloren, was mir im Kontext von Pisa sehr deutlich geworden ist: dass Kindheit, Spontaneität und Lebensfreude kein Widerspruch ist zu organisiertem Lernen. Sie müssen aber auch sehen, dass bei Pisa Jugendliche getestet wurden, deren Schulkarriere lange vor meiner Amtszeit begann.

Warum verlängern Sie dann nicht die wichtige Phase der Grundschule auf neun Jahre?

Das ist nicht die entscheidende Frage. Auch Länder mit gegliedertem Schulsystem waren bei Pisa viel besser als Deutschland. Zurzeit ist es nicht sinnvoll, in Berlin die neunjährige verbindende Schule einzuführen. Sonst führen wir wieder eine Strukturdebatte, in der nicht über Qualität von Unterricht gesprochen wird. Wir setzen auf die 6-jährige Grundschule, einen einheitlichen Abschluss nach der 10. Klasse und mehr Durchlässigkeit.

Mit welchen Ergebnissen rechnen Sie bei dem diesjährigen Pisa-Test, an dem sich Berlin beteiligt hat?

Ich weiß bereits, dass wir überall die Quoten erfüllt haben. Ich setze darauf, dass es besser wird.

Vorletzte Runde: Klaus Böger macht Dampf: „Jetzt müssen wir aber weiterscrabbeln, wir verquatschen uns.“ Die taz ist am Zug, Böger überlegt mit. „Geld? Das haben wir zwar nicht, aber darüber haben wir ja schon gesprochen.“ taz will ein S gegen ein Z tauschen. „Okay“. DAZ.

Sie wollen die Fortbildung in „Deutsch als Zweitsprache“ [DAZ] fördern. Mit Geld?

Wir setzen über 700 Lehrerstellen dafür ein. Jenseits aller ethischen Fragen wie Gerechtigkeit ist es eine der Vernunft, zu reagieren, wenn man sieht, dass eine Schülergeneration bestimmte Wege nicht erreicht. Auch das hat Pisa angestoßen, dass Sprache der Schlüssel ist. Wer Integration will, und ich will sie, der muss den Menschen die Verkehrssprache dieses Landes vermitteln.

Ist es der richtige Weg, Schüler mit ungenügenden Sprachkenntnissen nicht in die dritte Klasse vorrücken zu lassen?

Am Ende der zweiten wird es eine Orientierungsarbeit in Deutsch geben. Ich bin dafür, einem Kind ein Jahr länger Zeit zu geben, wenn zu viele Mängel im Sprachverständnis vorhanden sind. Die Alternative wäre, es weiter mitlaufen zu lassen. Die Diskrepanz zwischen intellektuellen Fähigkeiten und sprachlichem Vermögen würde nur immer größer.

Man könnte auch sagen, man lässt es in die dritte und fördert es stärker.

In der dritten Klasse beginnen der fachliche Unterricht und die erste Fremdsprache. Wenn parallel dazu ein gewisser Sprachstand fehlt, kann das Kind keine Lernerfolge realisieren.

Gemeinsamer Beschluss, das Spiel zu beenden und angesichts mittlelschwerer Tricksereien keinen Sieger zu küren.

Wenn Sie in der Politik einen Joker zur Verfügung hätten, wofür würden Sie ihn einsetzen?

Ich würde gerne auf einen Schlag in Berlin alle Schulen, in denen Kinder bis zum 12. Lebensjahr sind, in Ganztagsgrundschulen umwandeln. Das würde zwar nicht sofort die Stadt verbessern, aber wäre strukturell genauso wichtig wie die Spielfähigkeit von drei Opern. Das kostet nur viel Geld.