: Der Föderalismus lebt – in der Schweiz und den USA
In Deutschland trägt der Bundesstaat noch immer Züge von Bismarcks Fürstenbund. In der Schweiz bestimmen die Kantone in Eigenregie über Einkommensteuer und Bildungssystem, in den USA die Einzelstaaten über Todesstrafe und Höhe der Mehrwertsteuer. Und ihre Kompetenzen sind deutlich von denen der Zentrale geschieden
Wir lernen es schon in der Schule: Deutschland ist ein Bundesstaat; zu den unveränderlichen Prinzipien seiner Verfassung gehört neben der Demokratie, dem Sozial- und Rechtsstaat auch der Föderalismus.
Aber stimmt das überhaupt? Wir zahlen Steuern, über deren Höhe der Berliner Bundestag bestimmt; wir erhalten eine Rente, deren Höhe die Bundessozialministerin festlegt; und demnächst sollen an Deutschlands Schulen auch noch „nationale Bildungsstandards“ gelten, die gleichfalls in Berlin beschlossen werden.
Von der ursprünglichen Idee des Föderalismus, wie sie die klassischen Bundesstaaten Schweiz oder USA verkörpern, ist das deutsche System seit jeher weit entfernt. Die dortigen Kantone oder Einzelstaaten üben ihre Kompetenzen etwa im Bildungswesen weitgehend in Eigenregie aus, ganz ohne nivellierende Kultusministerkonferenz. So beträgt die Grundschulzeit im schweizerischen Kanton Basel-Stadt vier Jahre, im Aargau fünf Jahre, in Zürich sechs Jahre – und das im Umkreis von nur einer Autostunde.
Wer sich in Basel kriminell betätigt, der sollte sich tunlichst mit der baselstädtischen Strafprozessordnung vertraut machen – die sich von den Regelungen im benachbarten Kanton Basel-Land durchaus unterscheiden kann. Nicht anders in den USA: Dort entscheiden die Bundesstaaten sogar über die Anwendung der Todesstrafe. Der Satz der Mehrwertsteuer schwankt zwischen 3 und 8 Prozent. In der Schweiz kann selbst ein Zwergkanton wie Uri, das gerade 36.000 Einwohner zählt, über die Höhe der Einkommensteuer selbst entscheiden.
Die Zentrale in Bern oder Washington redet den Einzelstaaten in diese Kompetenzen nicht hinein – aber im Gegenzug muss auch die Regierung des Gesamtstaats nicht befürchten, in ihrem eigenen Bereich von aufmüpfigen Länderchefs blockiert zu werden. Anders als der deutsche Bundesrat werden amerikanischer Senat und schweizerischer Ständerat direkt vom Volk gewählt, nicht von den Regierungen der Einzelstaaten beschickt. Mehr noch: Die Wahltermine sind gebündelt, anders als in Deutschland befindet sich die nationale Politik nicht unentwegt im Dauerwahlkampf.
Hierzulande trägt der Bundesstaat noch immer die Züge jenes Fürstenbundes, den Bismarck einst ins Leben rief. Der „Bundesrat“ des Kaiserreichs hatte vor allem den Zweck, knapp drei Dutzend Provinzpotentaten über den Verlust ihrer territorialen Macht hinwegzutrösten. Da konnte selbst der Monarch aus dem thüringischen Greiz noch einmal große Politik spielen, obwohl sein winziges Fürstentum „Reuß ältere Linie“ längst den Vorgaben aus Preußen ausgeliefert war.
Daran hat sich bis heute nicht allzu viel geändert. Wenn kleine Sonnenkönige wie Roland Koch oder einst Oskar Lafontaine großes Bundesratstheater spielen – dann vergessen sie schnell, dass sie daheim nicht viel zu sagen haben. RALPH BOLLMANN