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Archiv-Artikel

Watch the Gap

Leben und Schreiben im Labor Berlin. Über bevorstehende Umzüge in die Hauptstadt ist im Literaturbetrieb derzeit viel die Rede. Unsere Autorin hat ihn hinter sich. Eine Selbstbefragung

VON JAGODA MARINIĆ

Wieder blicke ich auf das verschneite Winterbild vor meinem Schreibzimmerfenster, höre das Spielplatzgeschrei kleiner Kinder, durch Glasscheiben gedämpft. Wie kleine bunte Streichhölzer bevölkern sie den Schnee auf dem Platz vor meinem Haus, sie fallen um, stehen auf, umarmen und bewerfen sich.

Zehn Jahre lang lebte und schrieb ich in Heidelberg. Von Heidelberg aus bereiste ich Kroatien, Rumänien, Spanien, Italien, Kanada und die nordamerikanische Ostküste. Immer kam ich zurück. In Split, Zagreb und New York blieb ich etwas länger. Heidelberg wurde meine große Konstante, dort führte ich das Gesehene, Gedachte und Erlebte an meinem Schreibtisch zusammen. Diese romantische Stadt, die weder groß noch grell ist, Großstadt nur nach den Kriterien der Internationalen Statistikkonferenz von 1877, wonach jede Stadt, die über einhunderttausend Einwohner zählt, eine Großstadt ist. Heidelberg, das sind ein Schloss, eine Kirche, ein Marktplatz und die Fußgängerzone. Hinzu kommen der Fluss und die Wälder, die Alte Brücke und der Philosophenweg. Es ist ein weiteres Zeugnis der mangelnden Vielfalt dieses Städtchens, selbst als jahrelanger Bewohner nur das nennen zu können, was ein Japaner-Touristen-Tross an einem Reisetag abklappern würde. Heidelberg lebt nicht von seiner Vielfalt, sondern von seiner Einfalt.

Gottfried Keller schon dichtete der Alten Brücke ein Liebesgedicht, das als Huldigung an Johanna Kapp gelesen wird und etwas ausdrückt, was einem Schriftsteller noch heute in Heidelberg widerfahren kann: „Schöne Brücke, hast mich oft getragen / Wenn mein Herz erwartungsvoll geschlagen / Und mit dir den Strom ich überschritt. / Und mich dünkte, deine stolzen Bogen / sind in kühnen Schwüngen mitgezogen / und sie fühlten meine Liebe mit.“ Heidelberg gibt sich dem Dichter hin. Diese Illusion ermöglicht es, auf zauberhafte Art entlang des Neckars in die eigenen Gedanken und Geschichten und somit letztlich ins eigene Schreiben zu spazieren. Dabei ein Gefühl von Getragensein, das immer auch Umgebensein und Halt bedeutet. Heidelberg bietet dem Dichtenden Boden. Die Weltfremdheit, die viele der Stadt vorwerfen, ist zugleich ihr größtes Gut. In dieser Weltfremdheit lässt sich die Welt anders erfahren. Ich hielt es für keinen Zufall, dass Hans-Georg Gadamer, der wie ein gealterter weißer Engel durch die Gänge der alten Aula schwebte, sich dort geborgen genug fühlte, um sich mit der Suche nach Wahrheit im technologischen und medialen Zeitalter auseinanderzusetzen.

Nach Berlin zu kommen bedeutete für mich, einem wirbelartigen Sog nachzugeben. Die Tage, die ich zuvor in der Stadt verbracht hatte, sprachen dafür. Auch dagegen, doch das Dafür war stärker. Zudem das allseits propagierte Geklingel über die jungen Kulturproduzenten der Hauptstadt, die am Puls der Zeit leben, die hier einen Fundus an Geschichten vorfinden etc. Das Bild meiner Schreibgeneration: Wir wollen von unseresgleichen umgeben sein, im permanenten Austausch, sind lesungswütig und poetryslammermäßig, beteiligt an den medialen Inszenierungen unserer Zeit.

Seit Monaten sitze ich nun in meinem Berliner Schreibzimmer vor dem Fenster, dahinter die ersehnte, versprochene kulturelle Vielfalt. Selten fiel mir das Schreiben so schwer. Ich möchte das Angebot dieser Stadt nutzen, die Stadt an sich. Und ich möchte schreiben. Ich beginne die Tage plötzlich im Widerstreit mit mir selbst. Denn in dem Moment, da ich das Haus verlasse, wird sich die Stadt nicht, wie Heidelberg, meinen Stimmungen und Gedanken fügen, sie gar verstärken. Nein, sie wird sie auslöschen. Ganz allmählich. Mit jedem Schritt tritt etwas, das nichts mit meinem Schreiben zu tun hat, in mich. Viele kleine Momente der Auslöschung des Eigenen, sobald ich die Welt nicht durch das Fenster erlebe.

So wollte ich mich beispielsweise keinesfalls ins Berlinale-Fieber hineinziehen lassen und tagelang mit großen Augen vor Stars und Kinoleinwänden sitzen. Das Ergebnis meines Vorsatzes? Am Preisverleihungsabend stand ich vor dem Berlinale Palast und wartete darauf, Tilda Swinton zumindest von weitem zu sehen. Ein anderes Beispiel: Mein Interesse an handgemachten Videos ist so marginal, dass ich ohne ein passendes Angebot nichts von meinem marginalen Interesse wüsste. Videoverrückte, die tagelange Aufnahmen von sich selbst und ihrem Alltag machen, um dann anhand des gesammelten Materials über die formale Beschaffenheit ihres Films zu sinnieren. Form over content. Dennoch lande ich eines Abends nach einem Berlinale-Film auf einem Vortrag über „handmade films“.

Gestern, ich wollte eigentlich nur zur Post, verlor ich eine Ewigkeit vor einem Galerieschaufenster in der Torstraße. Dort installierte sich gerade eine New Yorker Künstlerin unter durchsichtiger Plastikfolie und auf Holz, drapierte sich kunstvoll die Folie um den Körper, die obligatorische Kamera im Eck. Die nächste Stunde befasste ich mich mit der Frage, was sie antrieb, wie es um die Luft unter der Folie stand und weshalb es ihr wichtig war, bei alldem betrachtet zu werden. Eingesperrt in Plastikfolie, selbstgewähltes und selbstverschuldetes Plastikgefängnis, durchsichtig, ihren Augen gewährt sie die Welt, doch die Hände sind gebunden. Genug Luft, um zu überleben, zu wenig, um frei zu atmen. Sie hatte das, was ich hinter meinem Schreibzimmerfenster fühlte, seit ich in Berlin war, ausgestellt. Da war es, das urbane Leben, wartete nur darauf, gelebt zu werden, und sie verstrickte sich inmitten alldessen bis zur Unbeweglichkeit. In der Torstraße, wo die Stadt aussieht, wie eine moderne Großstadt nun einmal aussieht, wird der Raum, den sie belebt, immer kleiner.

Ich wollte das alles nicht denken. Über das alles hatte ich meinen letzten Roman geschrieben, doch Berlin fragt nicht danach, was ich denken will. Durch Berlin zu gehen bedeutet, mit Berlin befasst zu sein, ohne eintauchen zu dürfen: Die schönen Ecken verlangen absolute Aufmerksamkeit, der Seltenheit wegen, das Hässliche drängt sich auf, der Maßlosigkeit wegen, die sozialen Probleme dieses Landes fordern mich ein, der Dringlichkeit wegen. Doch ich brauche eine Leerstelle, die mich aufnimmt, um einen Satz zu denken, um ihn in diese Leerstelle setzen zu können. In diesem Sinn war ganz Heidelberg eine Leerstelle. Eine der schönsten, die ich kenne. In Berlin fehlt der Raum, den sich die Phantasie erschließen darf. Hier werden Leerstellen allesamt aufgefüllt. Erklärt, verwendet, gedeutet.

Als ich letzte Woche in der U-Bahn saß, hörte ich an einer Haltestelle folgende Durchsage: „Bitte beachten Sie beim Aussteigen die Lücke zwischen Zug und Bahnsteigkante.“ Meine Zeit in New York kam mir bei diesem Satz in den Sinn. Ich sah das schlichte „Watch the Gap“ vor mir. In New York reicht das. In Berlin wird alles spezifiziert. Dieses Land, dieses Volk und diese Stadt insbesondere bedürfen zu jeder Zeit einer Konkretisierung, die das Offensichtliche ausspricht. Eine anziehende und schwierige Eigenschaft zugleich. Heidelberg gehört in diesem Sinn nicht zu diesem Land, es gehört auf eine Postkarte.

Warum fiel mir das Schreiben in New York, wo die Eindrücke tausendfach waren, das Leben viel schneller ablief, so viel leichter als hier? Weil ich allein durch meine Fremdheit zahllose Leerstellen zu füllen hatte, die alles zu einem Ganzen fügten? Oder weil die Menschen in New York sich in Geschichten begegnen? Jeder Taxifahrer, mit dem ich ins Gespräch kam, erzählte mir von einem Gast, der ihn erstaunt hatte, von seinem Leben, in die unerhörtesten Lügen und Übertreibungen gebettet. New York war nicht in den Straßen zu finden, sondern in der Leerstelle zwischen den Geschichten, die man sich hier erzählte, und dem Anblick dieser Stadt. Kleine, alltägliche Geschichten, die die Menschen wie magische Rezepte weitergaben. Ihnen zuzuhören war wie ein Buch aufzuschlagen, sich daraufhin an den Schreibtisch zu setzen war eine Fortsetzung der Straßengespräche. Man kann nichts verpassen in New York, denn alles Wichtige in dieser Stadt ist Fiktion.

In diesem Sinn ist New York wie Heidelberg, nur andersherum. In Heidelberg verschmolz die Stadt mit mir, in New York verschmolz ich mit der Stadt. Beides ist Fiktion. Fiktion ist der Anfang von Geschichten. So war jeder Gang auf die Straßen der Anfang von etwas. In Berlin hingegen sitze ich oft am Schreibtisch wie eine Zurückgelassene. Keine Verschmelzung mit einer imaginären Stadt, alles hier ist zerklüftet, auch der Mensch. Er bleibt isoliert, die Leerstelle ist nicht auszufüllen. Stattdessen wird sie konkretisiert, bis sie unüberwindbar wird, eingeschlossen zwischen der alten und neuen Realität dieses Landes. Statt sie zu füllen, spezifiziert man ihre Ränder, sichert sie ab. Vielleicht hat es deshalb den großen Berlin-Roman, von dem alle träumten, nie gegeben.

Die Kulturschaffenden hier unterhalten sich viel über kulturelle und politische Groß- und Kleinereignisse, viel wird über Deutschland sinniert, was großartig ist, doch es wird selten in Form von Geschichten getan. Selbst die Filmemacher des Deutschlandporträts der Berlinale „Deutschland 09“ erzählen ihre Kurzfilme eher anhand filmischer Essays und gesellschaftskritischer Dialoge denn an Menschen und ihren spezifischen Geschichten entlang. Konservierung und Auslöschung stehen in einem derartigen Widerstreit, dass man schwer atmen kann. Sehr viel „Meta“ hier. Um Luft holen zu können, denke ich. Doch auf der Meta-Ebene sind Menschen und ihre Geschichten nicht zu finden. Die Leerstelle bleibt unberührt, immer genauer bestimmt, doch nicht überwunden. Schon gar nicht durch die Phantasie.

Von der Autorin, Jahrgang 1977, erschien zuletzt der Roman „Die Namenlose“ im Verlag Nagel & Kimche