: „Warum wollen Sie dem Tod nachlaufen?“
Wolfgang Büscher ging zu Fuß von Berlin nach Moskau. Unterwegs entdeckte er verdrängte Erinnerungen und längst vergessene Geschichten
Dieses Buch wurde meine Rettungsinsel. Ausgerechnet. Unerwartet.
Eigentlich hatte ich die Nase voll von Moskau. Denn ich las gerade ein Manuskript über deutsche Emigranten im Moskau der 30er-Jahre. Sie wurden, kaum der SS entkommen, im vermeintlich sicheren Exil als „Gestapo-Agenten“ angeklagt, in den Gulag verbracht oder hingerichtet. Ich las Bettelbriefe ihrer Frauen, die um Bleibe flehten. Ich las von ihren Kindern, die in „Besserungsarbeitslager“ gezwungen wurden, Opfer jener absurden Verschwörungskonstrukte, mit denen der Geheimdienst NKWD das Plansoll an Verdächtigen zu erfüllen trachtete.
Ich suchte einen Ausweg aus dem Gestrüpp der Denunziationen und Verhöre, der Meldungen und Aktenzeichen, die Eissprache der Verfolgungsbürokratie in den sprawki und kompromaty drohte mich erstarren zu lassen. Ich suchte Wärme.
Vermutlich war es das letzte Zögern „vor dem honigfarbenen Licht der Dielen“, das mich mitnahm, als Wolfgang Büscher eines Morgens aufbrach, um von Berlin „so geradeaus wie möglich“ durch die Allee der Gehenkten, die Straße der Freundschaft und die Straße der Revolution nach Moskau zu gehen, auf dem Weg, der schon Napoleon und die Heeresgruppe Mitte zur Strecke gebracht hatte. „Den Weg nehmen die Deutschen immer“, höhnt ein Weißrusse.
Er wandert durch Landschaften der Hoffnungen und der Erinnerungen, der kleinen Sehnsüchte und der großen Müdigkeit, über Friedhöfe und Massengräber, immer entlang den endlosen Trassen des zerfallenen Sowjetreichs. Auf ihre Geschichte war er vorbereitet – auf die Seelower Höhen, wo die Geschütze der Roten Armee die Deutschen hinmähten, auf die Wälder um Katyn, in denen der stalinistische Geheimdienst die polnische Offizierselite ausrottete, auf Rudnja mit seinem Helden Michail Jegorow, der 1945 die Sowjetfahne auf dem Reichstag hisste. Unter dieser roten Fahne war das faschistische Ungeheuer zertreten worden – heute ist Rot die Farbe der Verheißung. Rot ist dort, wo sich der Westen einnistet: Rot ist Marlboro, ist Coca-Cola.
Was bringt einen 1951 Geborenen dazu, die Tür hinter sich zuzumachen und einfach loszugehen? Gegen den Strom der Woolworth-Migranten und Charlottenburger Ignoranten? Nach Osten, den „keiner haben will“? Zu Fuß, jeden Meter ertastend wie Perlen eines Rosenkranzes? Die Lust auf Ausbruch, die einst Jack Kerouac „On the Road“ getrieben hatte? Die Suche nach dem toten Großvater, dessen Spur sich auf den Seelower Höhen verliert? Abneigung gegen das Sitzfleisch der Autoren, die vom heimeigenen Sofa aus die Welt deuten?
Jenseits von Kerneuropa
Nur: Setzt man sich dafür monatelang der Einsamkeit der vielen stalowyje aus, der Kantinen mit dem immer gleichen kotlet kiewskij, den fleckigen Laken der Hotelbetten, der Versuchung, in der klammen Trostlosigkeit aufzugeben und umzukehren, heim in unser „Kerneuropa“ der honigfarbenen Dielen? „Warum wollen Sie dem Tod nachlaufen?“, schreit ihn der alte Soldat an, von dem er den Segen für die Reise ins Ungewisse erhoffte. „Fliegen Sie lieber nach Mallorca!“
Er fliegt nicht nach Mallorca, sondern geht diese schnurgerade dunkle Chaussee entlang, die so voller Versprechungen ist. Und lässt die Frage nach dem Warum zurück wie das Gepäck, das er schon an der polnischen Grenze abwirft. Denn das Gehen hat seine eigenen Gesetze – dreh dich nicht um. Was immer du nicht verstehst, morgen wirst du es verstehen.
Vielleicht sind es die Geschichten am Wege, die ihn verstehen lassen, je tiefer er in das Unbekannte vordringt. Die Märchen des Ostens, die unsere „blinden Fenster“ aufstoßen.
Von Oleg, dem sibirischen Yogi mit der olivfarbenen Haut, dessen assyrische Vorfahren aus dem warmen Zweistromland nach Armenien und Georgien geflüchtet waren, von wo Stalin sie in die eiskalte jakutische Wildnis deportieren ließ. Oleg schuftete auf Knien in den berüchtigten Minen von Workuta, als er entdeckte, dass seine Hände Brüche heilen, Blut stillen und das Salz aus den Gelenken treiben konnten.
Von der schönen, stolzen Gräfin Mankowska, die das Leben einer sorglosen galizischen Adligen führte. Bis die Deutschen kamen. Und der Krieg, den sie persönlich nahm. Wie die Liebe zu einem deutschen Oberst. Durch die Uniform hindurch erkannte sie den Einzelnen.
Von Hauptmann Schulz, der im Ghetto von Minsk einer Jüdin die Hand reichte, alles für sie aufgab und mit ihr floh. Sie kamen nach Moskau, so wie Schulz es sich erträumt hatte, und teilten das Leben, bis zwei Monate später einer dieser schwarzen Wagen vorfuhr. Schulz verschwand und wurde zum Aktenzeichen.
Es bedarf der Unschuld, um in solchen Geschichten das Geheimnis des Lebens zu ahnen. Sie erzählen von Menschen, die dem Mahlstrom der Geschichte widerstanden und sich ihre eigene Geschichte gewählt haben. Eine, die nur ihnen gehört. Wir brauchen sie wie die Füße das Gehen.
Meine Liebe zu dem Buch wurde kälter, je näher Moskau kommt. Der Sommer ist vorbei, die Luft riecht nach Winter, der erste Frost schlägt zu. Und die Begegnungen werden geheimnisloser, fast folkloristisch, so wie die Russendisko uns den „wilden Osten“ gern an Prenzlberg vorführt. Die im Regen tanzende Verrückte an der Grenzbar, die Lederjacken, der nächtliche Überfall, die abgedunkelten Staatswagen, der reiche Neue Russe, der alle Türen öffnet. Aber da endet die schnurgerade Chaussee ins Ungewisse, die so voller Versprechungen war, zwischen lauter Möbelmärkten, Baumärkten, Fliesenmärkten. Denn Moskau, das ist der Westen.
In Pasternaks Haus in Peredelkino, wo der Dichter die Nachricht vom Nobelpreis erhielt, zu dessen Empfang er nicht ausreisen durfte, schimmern die Dielen wieder honigfarben.
INGKE BRODERSEN
Wolfgang Büscher: „Berlin–Moskau. Eine Reise zu Fuß“, 224 Seiten, Rowohlt Verlag, Hamburg 2003, 17,90 €