Die nützliche Raubkopie

Eine Harvard-Studie belegt: Das Herunterladen von Musik aus Tauschnetzen hat statistisch keinen Einfluss auf den CD-Absatz. Die Industrie kümmert das wenig. Sie droht Kopierern weiter mit Knast

VON NIKLAUS HABLÜTZEL

Das Ritz-Carlton am Potsdamer Platz in Berlin ist zweifellos eine gute Adresse für ein bisschen Werbung in eigener Sache. Es sieht teuer aus, es ist teuer, und so war die wichtigste Botschaft in keiner Weise misszuverstehen, die eine Hand voll ernster junger Männer gestern Mittag zu verkünden hatte: „Raubkopierer sind Verbrecher.“ Eigentum verpflichtet eben doch, und in diesem Fall verpflichtet es den Verband der Filmverleiher zu einer künstlerischen Eigenleistung hochmoralischer Art: Er hat eine ziemlich echt aussehende Gefängniszelle nachgebaut und vor die Türen das Hotels gestellt. „Knast on Tour“ heißt das Kunstwerk, weil es demnächst auch in anderen deutschen Großstädten aufgestellt wird. Es soll uns allen helfen, erläutern die Kinoverleiher, das „Leben eines Raubkopierers nachzuempfinden“.

Genau daran fehlt es in der Tat. Auch die ersten Gerichtsverfahren gegen deutsche Staatsbürger, die ihre Lieblingsmusik in Internet zum Tauschen zur Verfügung stellen, haben nicht die geringste öffentliche Empfindung ausgelöst: weder Empörung noch Genugtuung. Die Tauschnetz-User sehen darin nur einen Betriebsunfall (man installiert eben nicht Kazaa). Aber auch die üblichen Stammtischprediger des harten Durchgreifens blieben stumm.

Dass ausgerechnet die Filmverleiher daran etwas ändern können, ist nicht wahrscheinlich. Die Musikindustrie konnte immerhin das Jammerbild des verhungerten Künstlers an die Wand malen – „copy kills music“ hieß ihre Parole. Verhungern jetzt die Regisseure und Stars in Hollywood? Wohl kaum. Schon eher ist die Kampagne geeignet, ziemlich unangenehme Fragen zu den Kinopreisen und den Marktstrategien des Gewerbes insgesamt zu stellen.

Sie werden neue Antworten erfordern. Von dem Phänomen, das in den USA sinnfällig „Napsterizing“ heißt, ist die Filmbranche bisher nur verschont worden, weil ihre Produkte in digitalisierter Form ungleich höhere Datenmengen erzeugen als Musik. Aber auch offline wächst die Lust am Kopieren digitaler Daten ungebrochen. Und hat inzwischen auch das Segment des DVD-Marktes erreicht. Was bislang tatsächlich nur ein Geschäft kleiner Hinterhofdealer war, ist dabei, die Grauzone der Kleinkriminalität zu verlassen: Wie die private Musiksammlung aus dem Netz beweist jetzt auch der selbst auf DVD gebrannte, seriöse Kinofilm lediglich die Medienkompetenz ihres Besitzers, der sie selbstbewusst und ohne jede Unrechtsempfindung in seinem Tauschnetz zur Verfügung stellt.

Verkaufen ist verpönt

Dort ist es streng verpönt, die von einem Tauschpartner heruntergeladenen Daten zu verkaufen – und auch kaum möglich, eben weil sie grundsätzlich kostenlos zugänglich sind. Die Grenze des für die Teilnehmer Zumutbaren ist allein durch die Bandbreite ihres Netzanschlusses bestimmt. Für die Datenmenge eines einzigen Videofilms muss ein PC mit analogem Modem oder ISDN-Karte schon mal eine Woche lang am Netz bleiben. Aber die vor allem in Deutschland mit enormem Werbeaufwand inzwischen beinahe flächendeckend durchgesetzten DSL-Anschlüsse und die ständig sinkenden Preise für Festplatten mit einer Aufnahmekapazität von über hundert Gigabyte beginnen nun doch, dem bislang attraktiveren Videoverleih um die Ecke Konkurrenz zu machen.

Das angebliche Verbrechen, das die Filmverleiher heute anprangern, ist in Wirklichkeit ein Geschäftsmodell, von dem auch sie am Ende profitieren. Im März ist an der Harvard Business School eine Untersuchung über den Einfluss der Tauschnetze auf den Absatz von Tonträgern erschienen. Ihre beiden Autoren haben über ein Jahr lang das Verhalten der Teilnehmer in zwei populären Tauschnetzen beobachtet und versuchen mit aller gebotenen Vorsicht aus diesen empirischen Daten eine Prognose abzuleiten.

Viel spricht danach dafür, dass schon heute die Musik, die jemand kostenlos aus dem Netz holt, zum Anlass zahlreicher Kaufentscheidungen wird. Eine bisher unbekannte Gruppe gefällt, Gelegenheitshörer und Hitparadenjunkies werden zu stilbewussten Fans, die sogar bereit sind, viel Geld für hochwertige Aufnahmen zu bezahlen. Sie werden Konzerte der Musiker besuchen, und die Aufnahmen, auf deren Besitz sie besonders stolz sind, wiederum ihren Tauschpartnern zur Verfügung stellen. Die Harvard-Autoren rechnen vor, dass ein solcher Rückkoppelungsprozess von immer qualifizierteren Anreizen und Angeboten eine stetig wachsende Nachfrage nach neuer und vor allem profilierter Musik zur Folge haben muss. Sie meinen, dass dieser höhere Bedarf schon bald nur noch von Tauschnetzen, kostenpflichtigen Downloaddiensten (wie „iTunes“) und Offline-Läden gedeckt werden kann.

Wie hoch deren wechselseitigen Anteile sein werden, lässt sich noch nicht seriös vorhersagen, fest steht für die Autoren nur eines: „Das Herunterladen aus Tauschnetzen hat einen Einfluss auf den Absatz, der statistisch nicht von null zu unterscheiden ist.“ Das gelte selbst unter den ungünstigen Annahmen einer realen Absatzkrise, die von der Musikindustrie ständig als Argument angeführt wird, zumal gerade dieses Horrorszenario von „mäßiger ökonomischer Bedeutung“ sei und „inkonsistent“ mit der Behauptung, die Tauschnetze seien die Hauptursache des Umsatzeinbruchs.

Die Harvard-Studie im Web: www.unc.edu/~cigar/papers/FileSharing_March2004.pdf