Metaphern ohne Eigengeräusch

So wie der Äther klingen würde oder das Weltall, wenn sie nur könnten: György Ligetis „Atmosphères“ eröffnen in der Musikhalle ein Konzert, bei dem Ligetis Requiem todessehnsüchtig auf Mahlers Zehnte trifft

György Ligeti hat vorgesorgt. Frühzeitig verfasste der aus Ungarn stammende, lange in Hamburg lehrende Komponist sein Requiem. Ungleich früher etwa als seine Kollegen Mozart, Berg oder Mahler, die kurz nach Fertigstellung ähnlicher Werke oder nur mit Skizzen in der Hand verstarben. Somit wird es dem 81-jährigen am Sonntag Abend in der Hamburger Musikhalle gegönnt sein, sein Werk im 39. Bühnenjahr vom Chor und Orchester der Bamberger Symphoniker und der Bayerischen Staatsphilharmonie noch einmal gespielt zu hören.

In Ligetis Atmosphères (1961), das den Auftakt des Abends bildet, kommt der Tod still und leise. Und plötzlich. Mit unbemerkten Gefühlen. Leben, verebbend. Aus dem pianissimo sich erhebende Töne. Von akademischen Harmonien ferne und so tief aus Halbtönen gestrickte Klänge, dass kein Einzelton, kein zusammengehöriges Paar mehr zu erkennen ist. Klangflächen, Klangnetze, die sich umfassen, neu umspannen, vor- und gegeneinanderschieben.

„Micropolyphonie“ war Ligetis bevorzugtes Kompositionsprinzip in den 60ern, und Atmosphères ist inzwischen ein Klassiker der Neuen Musik. Bis zu 88 Stimmen hoch ist die Partitur. Jeder Ton, jede Pause ist auskomponiert und abgestimmt auf das Ganze. Unmerklich verschiebt sich die Stimmung von düster zu hell, von warm zu schrill – so wie der Äther oder das Weltall klingen würden, wenn sie könnten: Metaphern ohne Eigengeräusch.

Am Sonntag in der Musikhalle folgen Gustav Mahlers Totenklage und dessen nicht gerade selten gespielte 10. Sinfonie. Doch im letzten Fall kam der Tod vorschnell – Mahlers Zehnte ist unvollendet. In den einzigen halbwegs autorisierten Satz der Sinfonie, das Adagio, wird daher soviel reingelesen, wie nur passt. Kenner wollen in ihm Spuren einer durchlittenen Ehekrise, eines diagnostizierten Herzfehlers und einer depressiven Todesahnung gefunden haben. Nach dem berühmten, höllenhündigen Neuntonklang am Schluss trägt das knapp 20-minütige Stück den Geist Mahlers in andere Sphären hinüber.

Vielleicht sind es dieselben Sphären, in denen sich Ligetis Requiem von 1963/65 bewegt. Das Werk kommt allerdings ganz ohne biographische Bezüge aus – György Ligetis Totenfeier ist ein archaisches, ein aus der puren Faszination von Tod und Weltuntergang komponiertes, aus allen gutturalen Tiefen und tinnitösen Höhen der menschlichen Stimme um Erlösung flehendes Werk. Ein grummelndes und Posaunen plärrendes Angstgeschrei, das sich im III. Satz, dem „Dies Irae“, in babylonisches Gestotter und Getümmel überschlägt.

Der Tod ist für Ligeti das Unausweichliche, oder vielleicht doch nicht? Ein warmes und beinah harmonisches „Lacrimosa“ schließt die Liturgie. Verschmitzt spart Ligeti die vier weiteren Texte der Totenmesse aus. So als könne er dem Tod damit ein Schnippchen schlagen.

Christian T. Schön

Sonntag, 19 Uhr, Musikhalle