DEMOKRATISCHE PFLICHTÜBUNG AUS ANGST VOR DEM GENOZID : Alles ist schlimmer als ein „neues Ruanda“
Die Manipulationsvorwürfe zugunsten des Wahlsiegers Paul Kagame beiseite gelassen – wenn wirklich 94 Prozent der ruandischen Bevölkerung aus freien Stücken für denselben Politiker als Präsident gestimmt haben sollten, kann das nur bedeuten, dass die Ruander dieser Wahl keine wirkliche Bedeutung beigemessen haben. Wählen gehen und den Daumenabdruck neben das Kagame-Bild zu setzen war offenbar nichts als eine Pflichterfüllung. Mit Demokratie hatte es weniger zu tun als mit dem Beweis der Bereitschaft der Bevölkerung, bei Kagames gigantischem Projekt mitzumachen: der Neuerfindung von Ruandas politischer Kultur jenseits der traditionellen Identitäten von Hutu und Tutsi.
Sicher war das nicht. Die Vehemenz, mit der Kagames Apparat während des Wahlkampfes vor „ethnischer Spaltung“ warnte und damit Gegenkandidat Twagiramungu dämonisierte, zeigt, wie viel Angst die Regierung vor ihrem Volk hat. Niemand konnte sich sicher sein, ob in der Geborgenheit der Wahlkabine nicht doch die Tradition von Hutu und Tutsi über die Einheitsideologie des „neuen Ruanda“ obsiegt. Umgekehrt zeugt die Bereitschaft der Bevölkerung, sich doch den Appellen Kagames zu fügen, ebenfalls von Angst: Angst vor einer Rückkehr in Ruandas blutige Vergangenheit, Angst vor den Folgen einer politischen Polarisierung, die zum Genozid führte. Ruandas Menschen wollen das alles nicht mehr. Sie wollen Frieden und Geld, so wie Menschen überall auf der Welt. Das kann es eventuell mit Kagame geben – ohne ihn gibt es garantiert das Gegenteil.
Nun ist gegenseitige Angst zwischen Regierten und Regierenden nicht die beste Grundlage für Demokratie. Denn irgendwann schwindet sie – und dann wird die Sache gefährlich. Mit 94 Prozent könnte ein Präsident leicht der Arroganz der Macht erliegen. Andererseits wird in sieben Jahren neu gewählt – und vielleicht ist das Volk bis dahin weniger folgsam. Insofern versperrt dieses Wahlergebnis die Sicht auf Ruandas Zukunft. Der wirkliche Aufbau eines modernen Ruanda, ein Modell für die friedliche Überwindung von Konflikten, beginnt jetzt erst, nach dieser merkwürdigen Pflichtübung namens Wahl. DOMINIC JOHNSON