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Archiv-Artikel

In zehn Minuten dopingfrei

Eike Emrich, der Leistungssportchef des DLV, ist kein Funktionär im herkömmlichen Sinne. Er hat seinen Adorno immer im Gepäck und argumentiert überaus scharfsinnig gegen Manipulation

„Das Bekennen eines Fehlers macht aus einem falschen Leben ein korrigiertes Leben“

AUS LEIPZIG MARKUS VÖLKER

Klar, so eine Meisterschaft der Leichtathleten unterm Hallendach ist zum Sportmachen da. Es wird gelaufen, gestoßen und gehüpft. Manchmal gar nicht so schlecht, wie die Leistung des 60-Meter-Sprinters Stefan Schwab (6,59 Sekunden) zeigte. Oder die des Weitspringers Sebastian Bayer (8,13 Meter) und der Dreispringerin Katja Demut (14,06 Meter). Aber bevor am Wochenende der erste Startschuss in der Arena in Leipzig fiel, hatten eher unsportliche Herren „die Meisterschaften der Funktionäre“ zu bewältigen, wie Leichtathletik-Präsident Clemens Prokop sagte, also einen Sitzungsmarathon, den Eike Emrich, Leistungssportchef des Verbandes, nutzte, um schnell mal, „in zehn Minuten“, ein Thesenpapier in den Laptop zu tippen. Der Schnellschuss hat es in sich.

Emrich ist kein Funktionär im klassischen Sinne. Er ist ein Intellektueller, der an der Uni des Saarlandes über die „Soziologie abweichenden Verhaltens“ forscht. Er kann Marx und Adorno aus dem Stegreif zitieren. Und über die herausragenden Fähigkeiten von Politikern sagt er kurz und prägnant: „Das sind Generalisten, die über das Spezialwissen verfügen: ‚Wie kann ich meinen politischen Gegner vernichten?‘.“ In der Sportpolitik ist dieses Können auch von Nutzen, doch Emrich, Skeptiker des Leistungssports alter Prägung, verlässt sich lieber auf seinen Scharfsinn. Früher gab’s andere Wortführer im Verband der Leichtathleten, Bernd Schubert zum Beispiel, der nach einem Urteil des Heidelberger Landgerichts als „ausgewiesener Fachdoper“ bezeichnet werden durfte. Schubert und Emrich – krasser könnten die Gegensätze kaum sein. Hie der Mann der Altlasten, dort der Mann, der sich durch die Altlasten wühlt. Emrich benutzt freilich ein anderes Bild für seine Arbeit: Er spricht vom Rucksack, den die deutsche Leichtathletik zu tragen habe. Es ist ein schweres Trumm, darin die schlechten Leistungen von Peking, aber eben auch das Schubert’sche Erbe: DDR-Trainer mit Dopingvergangenheit wie Werner Goldmann, um den es in den letzten Wochen mächtig Wirbel gegeben hat. Dürfen solche Leute weiterarbeiten als Trainer? Und wenn ja: unter welchen Umständen? Müssen sie bekennen, oder zählt so viele Jahre nach der Wende nur ihre Fachkompetenz?

Den Laptop hat Emrich (50) dabei. Er klappt ihn auf, lässt Journalisten darin lesen. Es geht prinzipiell darum, dass Trainer aus Ost und West „ihre Belastetheit offenbaren“. Dies würde die Möglichkeit eröffnen, Verträge weiterzuführen. Emrich sagt, dass sechs Trainer bereit wären, alles auf den Tisch zu packen. Namen will er nicht nennen, doch besagter Werner Goldmann, am Wochenende in Begleitung von Diskuswerfer Robert Harting in Leipzig, gehört nicht zu den Aussagewilligen. Es ist das Prinzip Hoffnung, das da mitschwingt, eine Hoffnung auf Einsicht von Coaches, die 18 Jahre geschwiegen haben – unter der Duldung bundesdeutscher Funktionäre und Sportpolitiker.

„Nur durch Offenlegen können wir der Individualisierung von Schuld begegnen“, glaubt Emrich, „ein Verband muss sich völlig ehrlich machen, das ist der einzige Weg.“ Der Uniprof geht sogar so weit zu sagen: „Wir werden einen Reinigungsprozess erster Güte erleben.“ Wirklich? Bisher handelt es sich nur um die Privatmeinung Emrichs, ein offizielles Papier des DLV ist es nicht, doch die provokative Kraft des Zehn-Minuten-Schriebs ist groß.

In Anlehnung an Theodor W. Adornos berühmte Prämisse („Es gibt kein richtiges Leben im falschen“) fordert Emrich: „Das Bekennen eines Fehlers macht aus einem falschen Leben ein korrigiertes Leben.“

Er argumentiert moralisch, appelliert an die Täter, die seiner Meinung nach durch den vorherrschenden Konformitätsdruck auch Opfer gewesen seien. Doch hilft ein moralischer Appell weiter, wo selbst schwerster juristischer Druck oftmals versagt hat? Emrich glaubt daran.

Seine Thesen richten sich auch an den Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB) und an den DLV selbst. Die „falsche Ehrenerklärung des DOSB“ sei zu tilgen, weil sie belastete Trainer zum Meineid gedrängt habe. Es müsse einen runden Tisch geben, an dem Täter und Opfer sitzen. Eine „berufliche Rehabilitation“ danach müsse möglich sein. Und weiter: „Der DLV sollte eine Erklärung abgeben, in der er zugibt, dass er sich dieser Problematik [Beschäftigung von Dopingtrainern; d. Red.] nach 1990 nicht in ausreichendem Maße gestellt hat.“ Dass er diese Trainer „aufgrund ihrer Fachkenntnis trotz Verstrickungen in Doping in der Vergangenheit benötigt hat“. Der DLV solle, fordert Ehrenamtler Emrich, eine „Aufklärungskommission“ bilden, die sich mit dem Medikamentenmissbrauch in den vergangenen 40 Jahren in Ost und West befasst: „Auch für die alte Bundesrepublik muss es eine rückwirkende Aufklärung geben“.

Diese Forderungen sind Teil von Emrichs Vision eines „humanen Leistungssports“, einer Leichtathletik, die ohne fragwürdige Methoden und Mittel auskommt und in der Dachorganisationen nicht unter dem Generalverdacht der Geschichtsvergessenheit stehen. „Das ist meine Meinung“, sagt er, über das Laptop gebeugt. „Ich lasse mich nicht verbiegen.“