: Der zweitwichtigste Tag im Leben des John Kerry
AUS BOSTON MICHAEL STRECK
Selten hat Amerika mit solcher Spannung auf die Nominierungsrede eines Präsidentschaftskandidaten gewartet. Selten waren sich die Meinungsmacher in den USA so einig, dass diese 55 Minuten über das weitere politische Schicksal des demokratischen Herausforderers John Kerry entscheiden würden.
Zu unbekannt war der Mensch Kerry vielen Amerikanern immer noch. Zu unscharf seine Botschaft. Zu groß die Skepsis der Bürger, in Kriegszeiten die Regierung auszuwechseln. Zu distanziert und steif erschien der Senator aus Massachusetts nach wie vor.
Der Einsatz war also hoch. Zudem wird in den USA keine Ansprache – neben der Rede zur Lage der Nation – so kritisch analysiert und bewertet wie die Rede am Ende eines Parteikonvents, wenn der Kandidat nach der offiziellen Bestätigung durch die Delegierten sich als bessere Alternative empfiehlt.
Allen war klar, Kerry musste die Rede seines Lebens halten. Oder besser, wie der Boston Globe bemerkte, „die zweite Rede seines Lebens“. Die erste, die ihn in Washington, im politischen Establishment und unter Kriegsveteranen auf einen Schlag berühmt machte, datiert aus dem Jahr 1971. Damals hielt der aus Vietnam Zurückgekehrte im Kongress ein leidenschaftliches Plädoyer gegen einen falschen Krieg. Die Delegierten in Boston erwarteten auch diesmal eine deutliche Positionierung gegen Bushs Irakkrieg.
Darin enttäuschte er sie nicht. „Wir werden niemals in den Krieg ziehen, weil wir es wollen, sondern nur wenn wir müssen“, rief er der Menge zu. Und später legte er noch nach: „Als Oberkommandierender werde ich euch nie irreführen, wenn es um einen Krieg geht.“ Kerrys unerwartet scharfer Angriff auf Bushs Irakpolitik war Balsam für die Seelen der Delegierten. Vorher hatte er nie den Krieg als solchen kritisiert, sondern immer nur seine Ausführung, schließlich hatte er im Kongress die Invasion mit autorisiert. Enge Parteifreunde hingegen, wie Ted Kennedy, nannten den Krieg schon längst einen fatalen Fehler.
Irakkrieg, Sicherheitspolitik und Antiterrorkampf bestimmten mehr als die Hälfte seiner Redezeit – ein ungewöhnlicher Schwerpunkt, liegt den meisten Amerikanern doch traditionell und laut Umfragen die Wirtschaftslage mehr am Herzen. Doch in Kerrys Kalkül sind diese Themen nach dem 11. September und dem Desaster im Irak mit der Erfahrung Vietnam im Rücken seine Trumpfkarten. Er versprach, Soldaten niemals in den Krieg zu schicken, ohne einen Friedensplan zu haben, und einen Pentagonchef zu benennen, der wieder auf den Rat seiner Generäle hört. Er forderte ein militärisch „robustes“, also starkes Amerika, will die Truppenstärke um 40.000 Soldaten aufstocken, Waffensysteme modernisieren, kurzum, vieles tun, was er früher ablehnte.
Überdies verkündete er für den Fall seiner Wahl eine umgehende Reform der Geheimdienste. „Unsere Politik muss von Fakten bestimmt werden, und Fakten dürfen nie für die Politik verdreht werden“, sagte er mit einem deutlichen Seitenhieb auf das Weiße Haus. Bereits Anfang dieser Woche versprach er, die „9/11“-Kommission solle die von ihr empfohlenen Umstrukturierungen in den nächsten 18 Monaten überwachen. 16 Forderungen des Gremiums wolle er schnellst möglichst umsetzen, vornehmlich solche, bei denen das Parlament nicht zustimmen muss.
Was die Irakkrise betrifft, blieben seine Vorschläge zur Lösung nebulös und beschränkten sich auf das altbekannte Mantra, er wolle um internationale Verstärkung werben. Wie er dies zu tun will, präzisierte Kerry auch diesmal nicht. Die dringend gesuchte Vision für den Nachkriegsirak blieb Kerry schuldig. Und er vermied es, der Öffentlichkeit ehrlich zu sagen, dass US-Truppen wahrscheinlich lange im Zweistromland stationiert bleiben werden. Doch seine Botschaft enthält einen Kern, der von so manchem Außenpolitikexperten geteilt wird: Nur ein Regimewechsel im Weißen Haus kann das verlorene Vertrauen wiederherstellen, den Weg zu neuer Zusammenarbeit und zur Befriedung des Irak ebnen und die USA dadurch sicherer machen. Kerry erinnert dabei an die Geschichte. Schon einmal, während des Vietnamkrieges, schickten die Wähler eine unbeliebte Regierung in die Wüste und ermöglichten damit den Anfang vom Ende des verabscheuten Krieges.
Zu Beginn seiner Rede hatte Kerry gar salutiert und den militärischen Satz; „Ich bin John Kerry, und ich melde mich zum Dienst“, als Gruß gesprochen. Indem Kerry so stark auf seine Vergangenheit im Vietnamkrieg setzt, läuft er jedoch Gefahr, das Thema überzustrapazieren. Es war ein prägender, wenn auch kurzer Lebensabschnitt, über den das Wahlvolk mittlerweile hinreichend informiert ist. Seine Zeit als Senator, seine späteren politischen Initiativen fallen dabei unter den Tisch. Da er diese Zeit nicht selbst definiert, überlässt er das Feld den Republikanern, die dafür sorgen werden, sie in ihrem Sinne zu interpretieren: Kerry, der Superliberale aus Neuengland, dessen Werte sich kaum mit denen der Menschen im „Mainstream America“ decken.
Kerry setzt im heftig entfachten Wettstreit der Werte ganz auf den Dreiklang Optimismus, Glaubwürdigkeit und Wahrhaftigkeit, wobei er impliziert, dass die andere Seite, ohne sie namentlich zu nennen, Letztere speziell in der Irakfrage verloren habe. Nur einmal wandte sich Kerry mit einem taktischen Schachzug direkt an Präsident Bush, indem er ihn aufrief, im verbleibenden Wahlkampf nicht der „wütenden Polarisierung“ nachzugeben. Seine versöhnliche Geste und Appelle zur nationalen Eintracht werden vom Wähler, so hoffen die Kerry-Strategen, als staatsmännische Attitüde wahrgenommen. Schließlich wäscht das Bush-Team bislang ungleich mehr schmutzige Wäsche.
In die Waschtrommel kommt dabei immer wieder einer der schärfsten Vorwürfe, Kerry sei ein „Flip-Flopper“, also jemand, der wankelmütig ist und seine Positionen ändert. Die Republikaner versuchen seit je, Kerry daraus einen Strick zu drehen, dass er viel zu nachdenklich sei und ihn die Verstrickung in komplexe Zusammenhänge am Ende handungsunfähig mache. So war Kerry bemüht, den Menschen an den Bildschirmen klar zu machen, dass eine komplexe, nachdenkliche und reflektive Haltung, die Meinungsänderung einschließt, eine durchaus positive Eigenschaft darstellt.
Bestes Beispiel für seine komplexe Problemwahrnemung ist sein revolutionärer Vorschlag, die Abhängigkeit von ausländischem Öl radikal zu reduzieren. Dieses genuine Kerry-Projekt verknüpft geschickt Innen- und Außenpolitik. Es schlägt eine Brücke zwischen nationaler Sicherheit und Energiepolitik, Umweltschutz und Technologieförderung auch wenn es einen isolationistischen Beigeschmack hat.
Die ersten Reaktionen auf seine Rede sind gemischt. Viele Delegierten fanden sie „stark“ oder „kraftvoll“. Manchen waren jedoch auch unmittelbar danach trotz aller Euphorie unsicher, ob es eine „große Rede“ war. Die Washington Post etwa sieht in ihr eine „verpasste Chance“. Wie viele Meinungsmacher begrüßt das Blatt Kerrys Vorschläge im Bereich Gesundheits- und Fiskalpolitik, doch kritisiert, dass es ihm in Sicherheitsfragen an Klarheit fehle.
Einig war man sich, dass er kein mitreißender Redner vom Schlage eines Bill Clinton oder John Edwards war. Aber das erwartete auch niemand. Amerika habe ohnehin bereits gewusst, dass es sich nicht in Kerry verlieben würde, schreibt die New York Times. „In schweren Zeiten verliert die Öffentlichkeit das Interesse an schillernden Stars und sehnt sich nach Ernsthaftigkeit, Glaubwürdigkeit und einem vernünftigen Urteil.“ Dieses Bedürfnis könnte der 60-Jährige Donnerstagnacht erfüllt haben. So wurde Kerry nach Ansicht vieler erneut seinem Ruf als Langstreckenläufer mit langem Atem gerecht, der zwar zumeist schwach startet, aber stärker abschließt.
Nach dem Konfettiregen, während die Politgurus ungeduldig auf erste Umfrageergebisse warten, brach Kerry zu einer Marathontour quer durch die USA auf. Eine 5.600 Kilometer lange Reise soll ihn durch 21 Bundesstaaten führen. Wenn es so sein sollte, wie Experten vorhersagen, dass dieses Jahr die Parteitage aufgrund der bestehenden Wählerspaltung nicht den entscheidenen Kick bringen und externe Ereignisse wie der Irak den Ausgang maßgeblich beeinflussen können, ist Kerry wahrscheinlich gut beraten, wenn er sich dem unentschlossenen Wähler noch einmal vorstellt.