Hundert Wasser sind tief

Uelzen, eine Kleinstadt in Niedersachsen, träumt den Traum von der Hundertwasser-Metropole. Dabei schreckt die Stadt auch vor Maßnahmen wie nackten Männern im Frühtau nicht zurück

von Reinald Hanke

Man ist immer aus Versehen in Uelzen; nie würde jemand mit Absicht hinfahren. Dort kann man auch gar nicht willentlich hingelangen, denn die Uelzener sind rücksichtsvoll und verzichten auf alle Hinweise; sie selbst kennen den Weg und mögen anderen ihr altes Uelzen überhaupt gar nicht erst zumuten (...), schreibt Susanne Fischer in ihrem 1995 erschienenen Buch „Kauft keine Frauen aus Bodenhaltung“ (Verlag Weißer Stein). Und weiter: Anders dagegen mit der Bahn. Die Uelzener haben zwar, umsichtig wie sie nun einmal sind, lange erwogen, ihrem Bahnhof einen anderen Namen zu geben ....

.... haben es aber erst fünf Jahre später, im Jahr 2000, wirklich getan. Hundertwasser-Bahnhof heißt er jetzt. Und wer es nicht weiß, der bekommt es schon bei der Einfahrt in die Stadt auf großen Schildern verkündet: „Hundertwasser-Bahnhof“, links ab.

Und tatsächlich: Friedensreich Hundertwasser hat den Umbau des Bahnhofes als eines seiner letzten Werke selbst geplant. Eingeweiht wurde er im Jahr 2000. Und seitdem wähnt sich Uelzen im kulturellen Aufschwung. Ganz Unrecht haben die Uelzener damit nicht, denn inzwischen ist dank des Hundertwasser-Bahnhofs Uelzen manchem Architektur-Freund einen kleinen Abstecher wert. Na, und wenn der amtierende und außerdem auch noch allseits geschätzte Verteidigungsminister von hier kommt, dann muss der Uelzener doch eine durchaus beachtenswerte und wohl auch besondere Spezies des Niedersachsen sein.

Den Uelzenern gibt all das offensichtlich ein enormes Selbstbewusstsein. Und so kam man bald auf die Idee, dass es mit dem Bahnhof nicht genug des Hundertwassers ist in dieser Stadt. Uelzen, die Metropole in der Südheide, braucht ein Hundertwasser-Musical, so dachten sich ein paar Herren aus der Stadt mit der riesigen Zuckerfabrik. Und wie die Niedersachsen mal so sind: gesagt, getan. Kurzerhand wurden die Landesbühne Hannover und Konstantin Wecker mit dem Projekt beauftragt. Und damit auch alle mitbekommen, was in Uelzen Tolles passiert, hat man gleich noch einen draufgesetzt: „100 Tage vor Hundertwasser“. Das klingt fast so, als wenn es in Bayreuth hieße „100 Tage vor Parsifal“, nur dass da das Spiel mit dem Namen fehlt.

Das Festspielhaus ist das örtliche Theater an der Ilmenau, ein wie Bayreuth mit kontinuierlich ansteigenden Sitzreihen versehenes Theater im bezaubernden Stil der 1970er Jahre. Von außen ist es kaum als Theater zu erkennen, da es gut getarnt auf dem Gelände einer Schule liegt. Zum Glück ist Uelzen nicht so groß, man sucht höchstens eine halbe Stunde und landet wieder da, wohin in Uelzen alle Wege führen: am Bahnhof. Und dort erspäht man auch um 18.30 Uhr, wenn die Bürgersteige offiziell hochgeklappt werden, Menschen, die einem gerne den Weg weisen.

Oder man geht einfach in die Fußgängerzone und fragt die auffallend freundlichen Ureinwohner nach dem Hundertwasser-Musical-Theater. Da weiß jeder, wo man lang muss. Und wenn man Glück hat, erfährt man gleich noch den einen oder anderen Schwank zur angeblichen Entstehungsgeschichte.

Diese Stadt identifiziert sich wirklich mit ihrem Kultur-Event. Allüberall in der Fußgängerzone hängen Fahnen zum Musical und zum 100-Tage-Projekt, das mit einer Installation Ende April begonnen hat: Tausend Menschen für Hundertwasser. Da haben sich 1000 schwarz gekleidete Menschen für 1000 Sekunden in eine Reihe gestellt. Am gleichen Tag wurde in der Fußgängerzone eine Hundertblütenmischung verteilt, die in genau 100 Tagen blühen soll. Aber mit der Blüte wurde es nichts. Zu schlechtes Wetter in der Hundertwasser-Stadt.

Ein paar Tage später begann man das 100 Meter lange Hundertwasser-Band zu weben, und am 1. Mai wurden 100 Sätze und Gedanken auf den Uelzener Asphalt geschrieben, die dort 100 Tage zu lesen sein sollen. György Ligetis Poème Symphonique für 100 Metronome wurde aufgeführt. Und 100 Kinder bauten 100 Instrumente.

Aber nicht nur die „Hundert“ aus dem Namen des Künstlers wurde ausgeschlachtet, auch das „Wasser“ musste herhalten. Musik rund um dieses Thema gab es mehrmals in der Marien-Kirche, Wasserbilder wurden ausgestellt.

Als ganz besonderen Gag gab es am 20. Mai auf der „Champs-Élysées Uelzens“, so wörtlich in einer Broschüre des Fremdenverkehrsvereins, einen Nacktlauf Uelzener Männer. Da sollte dran erinnert werden, dass Hundertwasser 1968 eine berühmte Rede in Wien nackt gehalten hat. Weil man wohl niemanden verärgern wollte, hat man das in Uelzen nicht am helllichten Tag gemacht, sondern frühmorgens um fünf. Gar zu mutig wollte man dann doch nicht sein. Man ist ja nicht im Wien des Jahres 1968...

Aber der Mut der Uelzener zeigte an anderer Stelle durchaus bewundernswerte Ausmaße: Man gönnte sich eine Kulturmeile. Diese geht vom Bahnhof über die Fußgängerzone bis zum Theater. Man erkennt sie daran, dass alle paar Meter ein rotes Quadrat den Weg ziert. Nicht mehr, nicht weniger.

Während man andernorts an einer Kulturmeile diverse Kulturstätten vom Museum bis zum Konzertsaal findet, so bescheidet man sich im sparsamen Uelzen mit diesen Quadraten. Da findet die Kultur eben im Kopf statt. Wenn jedoch an der Uelzener Kulturmeile die Kultur ohnehin im Kopf stattfindet, warum spielt man dann noch live Theater? Das Theater könnte man sich doch auch einfach im Kopf vorstellen. Das kostet dann wenigstens nichts. Hundert CDs in hundert CD-Spieler eingeworfen, hundert Heißluftballons aufsteigen lassen und dort oben dann die hundert Anlagen mit den CDs voll aufdrehen. Und von oben 100 Minuten lang die Stadt beschallen. Dann hätten mit einem Schlag alle Uelzener das Hundertwasser-Musical erlebt.

Aber wären dann so viele Menschen von außerhalb in die „lebendige Innenstadt mit historischer Fachwerkarchitektur und einer ausgeprägten kulturellen Infrastruktur“ (Originalton Programmheft) gekommen, wie man bisher schon Tickets für das Musical verkauft hat? Wohl kaum.