: Preiswert wird billig
T-Shirts werden billiger und billige Näherinnen ärmer: Das Welttextilabkommen läuft aus
VON ANNETTE JENSEN
Keine Branche der Welt ist so stark globalisiert wie die Textilindustrie. In 160 Ländern werden Fäden, Stoffe, Hosen, Mützen oder Autositzbezüge hergestellt – und exportiert. Damit ist wohl bald Schluss. Denn zum Jahresende läuft das Welttextilabkommen aus.
Absehbar ist, dass in vielen Ländern Fabriken schließen müssen. Millionen Arbeiter und vor allem Arbeiterinnen werden ihre Existenzgrundlage verlieren. Und wo sich die Produktion halten kann, wächst der Druck auf die eh schon niedrigen Löhne. Auf der anderen Seite gibt es absehbar zwei große Gewinner des Wandels. Chinesische Großbetriebe werden neue Kapazitäten aufbauen und ihren Absatz enorm steigern. Und ebenfalls von der Entwicklung profitieren dürften die KonsumentInnen: Sie müssen künftig weniger für T-Shirts, Hosen, Nachthemden und Tampons ausgeben.
Ursache des gegenwärtig stark zersplitterten Weltmarkts sind das 1974 von über 50 Ländern verabschiedete Multifaserabkommen und das nachfolgende Welttextilabkommen. Durch beide erhielten die USA und die EU die Möglichkeit, für viele Länder Import-Höchstmengen festzulegen – was dem von ihnen permanent geforderten freien Weltmarkt komplett zuwiderläuft; sowohl das Allgemeine Zoll- und Handelsabkommen Gatt als auch dessen Nachfolgeorganisation, die WTO, verbieten Mengenbeschränkungen. Doch der Wunsch, heimische Arbeitsplätze zu schützen, wog schwerer als das Prinzip, und so setzten die Industrieländer Sonderregeln durch. Bis heute darf zum Beispiel Vietnam nur eine genau festgelegte Menge Büstenhalter und Hosen in die EU einführen und Brasilien verfügt über ein begrenztes Kontingent für Bettwäsche.
Gnadenloser Wettbewerb
Es erscheint nur auf den ersten Blick paradox, dass ausgerechnet eine Branche, die die Industrieländer seit Jahrzehnten vor ausländischer Konkurrenz zu schützen versuchen, einem gnadenlosen Wettbewerb ausgesetzt ist. Doch tatsächlich waren es gerade die Vorgaben aus den reichen Ländern, die die Internationalisierung vorantrieben. Bereits in den 50er-Jahren hatten japanische Firmen einen Weg gefunden, um die damals von den USA vorgeschriebenen Mengenbegrenzungen zu umgehen: Sie lagerten Teile ihrer Produktion in die umliegenden Länder aus. Zugleich profitierten sie von den wesentlich niedrigeren Löhnen in Taiwan und Südkorea. Bald waren auch diese Kontingente ausgeschöpft und es lockten noch billigere Arbeitskräfte – in Malaysia und auf den Philippinen, in einer weiteren Phase Sri Lanka, Bangladesch und China. Auch in Ländern wie Nicaragua und Haiti gibt es inzwischen viele Textilfirmen mit koreanischem oder taiwanischem Kapital.
Weil sich das Modekarussell in den Industrieländern immer schneller drehte, stieg lange Zeit auch der Absatz. Alle zwei bis drei Monate werfen die großen Modelabels neue Kollektionen auf den Markt. So lohnte sich der Aufbau neuer Kapazitäten plötzlich auch in Ländern, wo es vorher keinerlei exportorientierten Nähereien gegeben hatte.
Parallel verschlechterte die wachsende Konkurrenz aber auch die Arbeitsbedingungen und Umweltstandards. Um zumindest einige Jobs zu erhaschen, richteten immer mehr Staaten so genannte Freie Exportzonen (FEZ) ein, in denen die Firmen weder Steuern zahlen noch mit Gewerkschaften rechnen müssen und wo auch viele Landesgesetze keine Gültigkeit haben. Solche außerstaatlichen Wirtschaftsgebiete existieren inzwischen in 106 Ländern, allen voran China, wo es 2.000 FEZ gibt. Fast alle Jeans, Unterhosen und Hemden, die es hierzulande zu kaufen gibt, werden unter solchen Bedingungen hergestellt.
Es sind vor allem Frauen zwischen 15 und 30 Jahren, die manchmal bis zu 15 Stunden täglich an der Nähmaschine sitzen und ihre Gesundheit ruinieren. Obwohl der Verdienst oft kaum zum Leben reicht – eine Weberin bekommt in Bangladesch 25 Cent pro Stunde und eine Näherin in Indonesien 27 Cent –, sind die Jobs begehrt. Schließlich ermöglichen sie einen ersehnten Freiraum: Die Arbeiterinnen können selbst über ihr Geld verfügen. So sind viele sogar bereit, sich für die Vermittlung eines formellen Arbeitsplatzes zu verschulden.
Am Neujahrstag 2005 werden sich die Bedingungen schlagartig ändern. Viele Quoten aus dem Welttextilabkommen, die in den vergangenen Jahren nur zögernd gesenkt wurden, verschwinden komplett. Jedes Land darf dann so viel Waren exportieren, wie es kann. IWF und Weltbank erwarten vielerorts einen „Schock“.
Hintergrund für diese vor zehn Jahren getroffene Entscheidung ist die Forderung vieler Entwicklungsländer nach einem freien Markt ohne Quoten. Sie machen ihre Zustimmung zu anderen Freihandelsabkommen davon abhängig. Zudem sind auch die Wirtschaftsinteressen der Industrieländer keineswegs mehr homogen. Während früher vor allem die Textilhersteller ihre Lobbyisten in die Ministerien schickten und mit Arbeitsplatzabbau drohten, haben heute vor allem die Handelskonzerne Gewicht – und die wollen unbeschränkt und billig einkaufen. Dagegen können die Textilproduzenten immer weniger Jobs in die Waagschale werfen: In Deutschland arbeiten gerade noch 150.000 Menschen in der Branche; Anfang der 70er waren es in Westdeutschland 900.000, in der DDR ebenfalls mehrere hunderttausend.
Die bisherige Quotenregelung hat die Waren deutlich verteuert. So muss etwa ein chinesisches Unternehmen seine Exportlizenzen von einer zentralen Export-Kammer erwerben. Kostenpunkt: Etwa ein Viertel des Preises, den ein US-Händler heute für Bekleidung aus China bezahlt. Fällt künftig dieser Aufpreis weg, können chinesische Firmen ihre Waren viel billiger anbieten als bisher – und setzen andere Länder damit stark unter Druck.
Zum Beispiel Mexiko. Das Land konnte bisher trotz höherer Löhne häufig noch mithalten, weil es Mitglied im Nordatlantischen Freihandelsabkommen Nafta ist und deshalb bei Exporten in die USA weder Zoll zahlen muss noch durch Quoten gedeckelt wird. Zum Jahreswechsel aber wird das Land seinen wichtigsten Wettbewerbsvorteil gegenüber China einbüßen.
Gewinner ist China
Dabei sind es nicht allein die niedrigen Löhne, die China zum Hauptgewinner des Wandels machen werden. Das Land hat zusätzlich den Vorteil, über alle Produktionsstufen zu verfügen: vom Baumwollanbau und der Kunstfaserherstellung übers Spinnen, Weben bis hin zum Nähen. Zudem hat China in den letzten Jahren massiv in moderne Textiltechnik investiert. Die Produktivität ist nach oben geschnellt, die Belegschaften aber sind geschrumpft. So ist das Land bei den Lohnstückkosten unschlagbar billig und schon heute mit 11,4 Milliarden Euro Umsatz der mit Abstand größte Textilexporteur in die EU (siehe Kasten).
Über die Frage, ob das Welttextilabkommen verlängert werden sollte, haben sich völlig neue Koalitionen gebildet. Sowohl 69 Entwicklungsländer als auch viele Textil- und Bekleidungshersteller aus Industrieländern plädieren dafür. Demgegenüber wollen Indien und 23 andere Exportländer aus dem Süden, die Hilfsorganisation Oxfam sowie Nike und Adidas am Auslaufen des Welttextilabkommens zum Jahresende festhalten.
Das Südwind-Institut und das Ökumenische Netz, die eine aufschlussreiche Studie zum Thema veröffentlicht haben, fordern einen Sonderfonds für entlassene Näherinnen. Den sollen die großen Markenfirmen aus den absehbaren Einsparungen beim Einkauf finanzieren – statt den Kostenvorteil an die KonsumentInnen weiterzugeben oder selbst einzusacken.