piwik no script img

Archiv-Artikel

Galerie um den abwesenden Picasso

Das leere Zentrum der Sammlerleidenschaft: Das Neue Museum Weserburg zu Bremen ist der Gegenwartskunst gewidmet. Nun zeigt es – zum ersten Mal hierzulande – Klassiker der Moderne aus der Kollektion des französischen Galeristenpaars Maeght

von BENNO SCHIRRMEISTER

Die Lücken der Sammlung zeichnen ein Profil des Begehrens. Die legendäre Kollektion, die das Galeristenpaar Marguerite und Aimé Maeght vom Ende der 1930er- bis tief in die 1980er-Jahre im provenzalischen Saint Paul de Vence zusammengetragen hat, vereint Bilder von Miró und Braque, Giacometti und Matisse, Jean Dubuffet, Fernand Léger und Marc Chagall – kurz: nahezu alle bedeutenden Positionen der unmittelbaren Nachkriegsmoderne. Was ihr jedoch fehlt, ist deren Zentrum: „Es gibt keinen einzigen Picasso“, erläutert Thomas Deecke. Und gerade das, so der Direktor des Neuen Museums Weserburg zu Bremen, mache „die Sammlung zu einer typischen Sammlung“.

Unter dem milde ironischen Titel „Südliche Kunst unter nordischem Himmel“ zeigt das Bremer Museum derzeit einen repräsentativen Querschnitt der Bestände der Fondation Maeght. „Erstmals in Deutschland“, betont Deecke, der die Schau selbst kuratiert hat. „Davon waren wir auch überrascht.“

Nicht minder überraschend ist es allerdings, dem heimlichen Kanon der Moderne ausgerechnet im Museum Weserburg zu begegnen. Gewidmet ist das Haus in Bremen nämlich der Gegenwartskunst: Die Arbeiten, die hier normalerweise zu sehen sind, haben ein Durchschnittsalter von rund 20 Jahren, etliche davon sind – kunsthistorisch gesehen – noch längst nicht endgültig domestiziert: Unter der Rinde ihrer allmählich trocknenden Farbe oder auch unter den Lötspuren der großen Installationen scheint noch die Bewegung ihres Entstehens wahrnehmbar, pochend und unruhig.

Nichts davon gilt bei den Exponaten der Fondation Maeght: Der größte Teil der Arbeiten stammt aus den 1960er-Jahren, die Wurzeln der Sammlung aber sind deutlich älter: Surrealismus ist die Quelle, aus der hier alles zehrt.

Exemplarisch dafür steht Alberto Giacomettis „Femme-Cuiller“. Für die 1923 gegossene Löffelfrau hat man in der Weserburg eine sakral anmutende Nische freigehalten. Vom Charakter her aber hätten fast alle Arbeiten aus dem Fundus der Fondation bestens dorthin gepasst. Die Ausstellung, so ließe sich auch boshaft formulieren, wirft das Museum um Jahre zurück.

Doch der chronologische Rückschritt lohnt nicht nur als Versuch, durch die populären Werke jener Zeit ein breiteres Publikum zu akquirieren – beworben wird die Schau mit einer der bunten Plastiken Joan Mirós, der seine signalhafte Farbsprache ja selbst schon zu Lebzeiten in den Dienst der Reklame gestellt hatte. Mit der Einladung der Fondation Maeght befragt das erste Sammlermuseum Europas, im zwölften Jahr seines Bestehens, auch die Quellen seines eigenen Konzepts.

Das Ehepaar Maeght hat das Kunstsammeln zwar nicht erfunden, ihm aber doch seine moderne Prägung gegeben. Deren Hauptmerkmale sind eine unbedingte Zeitgenossenschaft, vor allem aber auch die Lücken der Sammlung – der offenbare, ja inszenierte Verzicht auf eine wie auch immer geartete Vollständigkeit.

Erkennen lässt sich dieser Verzicht ebenso bei der just im März neu nach Bremen gekommenen, noch sehr jungen Sammlung Tu wie bei der des Berliner Galeristen Reinhard Onnasch, die das Haus seit seiner Eröffnung zeigt. Sogar die Kollektion von Ingvild Goetz – auch ein Neuzugang des Frühjahrs – scheint mit der des provenzalischen Galeristenpaares verwandt zu sein, obwohl sie inhaltlich doch einen denkbar starken Kontrast bildet. Sie ist nämlich vertreten mit einem Raum für den 1954 in Detroit geborenen Stofftierschlachter Mike Kelley und mit 22 Installationen der so genannten Arte povera – Schlüsselwerke wie Luciano Fabros gläserner Hühnerkralle (Piede, 1972), dem Regenmantel mit Bienenwachsplatte und Neonröhren von Mario Merz (Impermeabile, 1967) oder auch dem Blätterhaufen mit gewölbter Glasplatte von Giuseppe Penone (Unghia e foglie di alloro,1989).

Daphne, das ist das griechische Wort für Lorbeer. Und tatsächlich hat die Glasplatte die Form eines riesenhaften Fingernagels, eine deutliche Anspielung auf den Mythos. Ovids Metamorphosen erzählen die Geschichte von der naturhaften Nymphe, die sich per Verwandlung der Vereinnahmung durch den Kunstgott Apollo entzieht; sie wird zum Lorbeerbaum. „Auch so liebt Phoebus sie noch“, heißt es weiter. „Er legt die Hand an den Stamm und fühlt, wie die Brust noch unter der neuen Rinde pocht.“ Wie ein Relikt des Kampfes liegt die gläserne Scheibe da, auf ihr sind Spuren, Fußabdrücke. Und die Blätter, regelmäßig aufgefrischt, duften zartherb: Das ist keine Darstellung, sondern die quasi rituelle Wiederholung des durchaus versöhnlichen Endes. Das Natürliche zieht ein in die Kunstwelt: Er werde künftig, so singt Apoll zum Schluss die geliebte Baumfrau an, einen Lorbeerkranz tragen.

Das genau ist eine Position, die nie und nimmer in der Sammlung Maeght hätte vertreten sein können: Ein absoluter Fremdkörper wäre sie. Fast wie ein Protest durch die Jahrzehnte hindurch lässt sich daher die expressive Eisenskulptur mit dem Titel „Dafné“ verstehen, die genau eine Etage über den Lorbeeren Penones ausgestellt wird: Julio Gonzales hat 1936 in expressiv aufwärts gestuften, rechteckigen, grob behauenen Platten das Drama der Verwandlung und die erstarrende Bewegung festgehalten. An ihrer Oberseite öffnen sich gen Himmel dünne, an ihren Enden sich verzweigende Ärmchen. Die Krone ist ein auf Elementarformen extrem reduziertes Gesicht. Aber es ist ein Gesicht, und trotz aller Dynamik ist das Standbild ein Standbild: Die Form wird erweitert, nicht gesprengt.

Das Werk ist, in der Kollektion der Maeghts, immer Ausdrucksmedium eines Künstlers. Die Rückkehr des Dings, die sich zeitgenössisch bei Yves Klein, in Fluxus und eben auch in der so genannten Arte povera ereignet, findet bei ihnen nicht statt. Sie ist ein Ausschlusswert ihrer Passion. Die gilt der klar konturierten Schöpfung.

So wird bei den Maeghts die Lücke zum Teil der Sammlungsidee. Sie ist weniger Symptom denn selbstbewusste Setzung und Artikulation der Leidenschaft. „La passion ne s’accomode pas de compromis“, die Leidenschaft fügt sich in keinen Kompromiss – so kategorisch, so französisch erklärt jedenfalls der heutige Stiftungsdirektor Jean Louis Prat die Form der Sammlung Maeght. Aus Leidenschaft also habe das Ehepaar „bestimmte Richtungen von vornherein ausgeschlossen, andere erkundet“. Und wieder andere „aus unterschiedlichen Gründen“ nicht integrieren können.

Picasso zum Beispiel. Wie genau würde er sich einfügen in den Raum zwischen Georges Braque und Giacometti, wie harmonisch würden sich zu den Bricolage-Skulpturen Mirós seine heterogenen Plastiken gesellen. Zu gerne, so lässt sich vermuten, hätten sie den zu den ihren gezählt. Aber die selbst auferlegte Regel, nur jene Künstler zu sammeln, deren Galerist man ist, ist heilig und unverletzlich. La passion ne s’accomode pas de compromis.

Vielleicht ist das auch der Grund, weshalb noch kein deutsches Museum die Sammlung bisher gezeigt hat: In der Provence lebt sie vom quasi mythischen Charakter des Ortes. Dort, in ihrem traumhaften um sie herum und mit ihr gewachsenen architektonischen Rahmen, stellt sich weder die Frage nach ihrer Abgeschlossenheit noch die nach ihrem Zusammenhang: Sie sind gegeben, und überall in dem Kunstparadies bildet man sich ein, die Urheber der Gaben persönlich gerade knapp verpasst zu haben.

Transportabel jedoch ist solch ein Fluidum nicht: Ausstellbar wird die Sammlung jenseits ihrer Heimat nur, weil es in der Bremer Weserburg aufs Neue ersteht, wenn auch auf eine andere Weise: im stummen Dialog der Sammler, in einem Chor der Leidenschaften.

Bis 26. Oktober, Katalog 30 €