Mit Recht und Vernunft

Die Nürnberger Prozesse lieferten ein lebendiges Zeugnis für internationale Kooperation und die Prinzipien der Gerechtigkeit. An ihm sollte sich die US-Regierung orientieren

Seit Bush handeln die USA handeln nicht mehr im Einklang mit ihren eigenen Maßstäben für Gerechtigkeit

Die Regierung Bush beschwört gern die Erinnerung an München. Die Stadt steht als das Symbol für den fehlgeschlagenen Versuch, Nazi-Deutschland durch Zugeständnisse zu beschwichtigen. Erst kürzlich sagte Verteidigungsminister Rumsfeld in Singapur, dass Staaten, die mit Terroristen verhandelten, die Fehler der 30er-Jahre wiederholten. Die Terroristen von heute würden sich nie mit Zugeständnissen abspeisen lassen, erklärte Rumsfeld, genauso wie die Nazis sich nicht mit dem Sudetenland zufrieden geben konnten.

Doch die US-Regierung Bush täte gut daran, sich auch den Namen einer anderen deutschen Stadt ins Gedächtnis zu rufen, die mit Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg behaftet ist: Nürnberg. Bei den Prozessen vor dem Internationalen Militärtribunal (IMT) in Nürnberg nach dem Zweiten Weltkrieg konstituierten die Alliierten, allen voran die Vereinigten Staaten, zwei wesentliche Prinzipien der internationalen Gerechtigkeit. Als Erstes führten sie den Begriff der „Verbrechen gegen die Menschheit“ ein. Die Alliierten befanden, dass der Zweite Weltkrieg kein konventioneller Krieg zwischen gegeneinander kämpfenden Armeen war. Nazi-Deutschland hatte auf und neben den Schlachtfeldern gegen Soldaten und Zivilisten Gräueltaten in einer bis dahin nie da gewesenen Bandbreite begangen.

So wäre es viel zu wenig gewesen, die Führer Nazi-Deutschlands wegen aggressiver Handlungen gegen andere Staaten anzuklagen. Ein neuer Maßstab für Gerechtigkeit war erforderlich. Diese Position wurde besonders stark von US-Chefankläger (und Richter am Supreme Court) Robert H. Jackson vertreten. Jackson schrieb an Präsident Truman, dass das IMT unter anderem die Verantwortung habe, den gesamten Umfang der Nazi-Gräuel gegenüber der Welt zu dokumentieren. Mit der damals eingeführten Bezeichnung „Verbrechen gegen die Menschheit“ wurden die neuartigen, systematischen Brutalitäten des Dritten Reichs am besten erfasst. In der Charta des IMT fielen unter diese Bezeichnung Verbrechen wie „Ermordung, Ausrottung, Versklavung, Verschleppung und andere unmenschliche Handlungen“ sowie „Verfolgung aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen“.

Als Zweites machten die Alliierten deutlich, dass einzelne Menschen, und nicht nur Staaten, wegen der von Nazi-Deutschland begangenen Verbrechen verfolgt werden könnten. Früher waren Staaten nach Verlust eines Krieges durch die Bedingungen des Friedensvertrages vom Sieger bestraft worden. Der Verlierer wurde dabei üblicherweise gezwungen, Reparationszahlungen zu leisten und Teile seines Hoheitsgebietes abzutreten. Doch die Alliierten gelangten zu der Überzeugung, dass Krieg, Verschleppung und Ausrottung in dem Umfang, wie sie von Nazi-Deutschland betrieben wurden, nur mit aktiver Beteiligung von Millionen von Menschen möglich gewesen sein konnte. Das IMT wandte sich gegen Einzelpersonen von der obersten Spitze der Nazi-Hierarchie bis hinunter zu kleinen Chargen und sogar Zivilisten.

Die Entschuldigung „Ich habe nur Befehle befolgt“ reichte nicht mehr. Daneben wurden besonders diejenigen intensiv verfolgt, die solche Verbrechen organisiert und als Helfershelfer daran mitgewirkt hatten, selbst wenn sie nur hinter irgendeinem Schreibtisch gesessen und sich nie als unmittelbare Täter an Ermordungen oder Verfolgungen beteiligt hatten.

Noch ein drittes Prinzip, das zwar nicht ganz neu, aber trotzdem nicht weniger bedeutend war, kam in Nürnberg ins Spiel: Die USA arbeiteten gemeinsam mit ihren Verbündeten an der Einführung neuer Maßstäbe für Gerechtigkeit. Dabei sprachen sich nicht wenige US-Beamte für Hinrichtungen im Schnellverfahren aus: am besten alle Nazi-Führer zusammentreiben und erschießen, ganz einfach. Doch die kühleren Köpfe setzten sich letztlich durch. Sie argumentierten, dass die Alliierten nach denselben Prinzipien zu agieren hätten, die sie schon während des gesamten Krieges vertraten. Die Siegerstaaten mussten die Nazi-Führer in öffentlichen Verhandlungen anklagen und ihnen das Recht zur Verteidigung einräumen. Auf diese Weise würden die Prozesse ein lebendiges Zeugnis für die Prinzipien der Gerechtigkeit und die internationale Kooperation liefern.

Die Nürnberger Prozesse waren ein entscheidendes Ereignis in der Geschichte. Jeder größere Fortschritt bei der Durchsetzung der Menschenrechte seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs beruht auf den damals erarbeiteten Prinzipien. Nun aber betreibt Bush aktiv die Zerstörung der großen Errungenschaften von Nürnberg. Die New York Times berichtet am 8. Juni 2004, dass Anwälte der Regierung befunden hätten, die US-Regierung müsse das Folterverbot nicht beachten, wie es laut US-Recht und internationalen, von Amerika unterzeichneten Verträgen vorgeschrieben ist. In dem Memo der Anwälte werden zudem Zivil- und Militärbeamte ausdrücklich vom Folterverbot ausgenommen. Kurz gesagt: Die amerikanische Regierung steht über dem Gesetz, und wer in ihrem Aufrag Gesetze bricht, kann nicht strafrechtlich verfolgt werden.

Justizminister Ashcroft leugnet, dass diese Empfehlungen der Anwälte jemals umgesetzt worden seien. Doch behauptet die US-Regierung seit dem 11. September beständig und unverhohlen, dass sie nicht an die Genfer Konventionen gebunden sei. Dementsprechend versagt der neue Bericht der US-Armee völlig dabei, die Rolle höherrangiger Offiziere und politisch Verantwortlicher zu beleuchten. Die New York Times verwarf das am 24. Juli schlicht als „whitewash“.

Jeder größere Fortschritt bei der Durchsetzung der Menschenrechte beruht auf Nürnberg

Letzte Woche wurde nun vor einer Militärkommission darüber verhandelt, ob gegen die Gefreite Lynndie England Anklage erhoben werden soll. Klar scheint: Wegen der Misshandlungen im Gefängnis Abu Ghraib drohen nur einfachen Soldaten Klagen, während Hauptverantwortliche wie Verteidigungsminister Rumsfeld volle Rückendeckung von Präsident Bush erhalten. Es gibt wohl kaum eine zynischere Art, das Nürnberger Prinzip zu verletzen, wonach Menschen auf allen Regierungsebenen gesetzlich und moralisch verpflichtet sind, im Einklang mit den internationalen Maßstäben für Gerechtigkeit zu handeln.

Am Ende des Zweiten Weltkriegs gehörten die Vereinigten Staaten von Amerika zu den großen Verfechtern von Menschenrechten und internationaler Kooperation. Nach dem heute vorherrschenden Eindruck sind die USA nicht, wie es Richter Jackson in seinem Schlusswort ausdrückte, Teil „des Verbandes von Staaten, … [der] internationales Recht [durch] Beweise, Recht und Vernunft durchsetzt …“. Dank George W. Bush haben die USA das Image, ein Staat zu sein, der Zivilisten in Gefängnissen unter amerikanischer Leitung foltert und erniedrigt – und sich anmaßt, sich über internationales und amerikanisches Recht hinwegsetzen zu dürfen. Viel eher als München wäre Nürnberg die Stadt, an die sich Amerikas Regierende erinnern sollten.

ERIC D. WEITZ

Aus dem Englischen von Beate Staib