Brutal vertanzte Erinnerungen

Niedersächsischer Pas de Deux: „Tanztheater International“ erlaubt ein Wiedersehen mit alten Bekannten

aus Hannover Henning Bleyl

Whisky und Fahnen hinterlassen erstaunliche Spuren im kollektiven Gedächtnis der Menschen. Sagt Jo Fabian und meint damit die Wirkungen von Ideologien und Drogen. Auch seine gleichnamige Produktion über die Befindlichkeit der Ostdeutschen nach der Wende prägte sich nach ihrer Uraufführung vor zehn Jahren als „Kultstück“ ein. Jetzt eröffnete sie in der Herrenhauser Orangerie das Tanztheater International.

Eine Wiederaufnahme als Festival-Opener? Warum nicht – zumal sie in Originalbesetzung getanzt wird, was Veränderungen garantiert. Vor allem bei den männlichen Compagnie-Mitgliedern: Es ist charmant, statt athletischer Körper hüftspeckgepolsterte Mittvierziger zu sehen, in denen gleichwohl ein mitreißender Bewegungsflow steckt. Auf „80 Kilogramm mehr“ schätzt der Chef seine Truppe, ansonsten hat er sich für eine exakte Rekonstruktion entschieden.

Da stehen sie also wieder, die Fahnenreihen, deren Rot sich in den Pappnasen zweier „Ossi-Clowns“ fortsetzt. Da sprüht er wieder, der Daniil-Charms-Charme der skurrilen Dialoge, da hüpft sie wieder scheinbar harmlos herum, die zwischen FDJ und BDM changierende Mädchenschar. Bis Protagonist Jörg Steinberg, der als joviales Arsch zwischen den auf die Bühne knallenden Fahnen rumtrainert, verkündet: „Jetzt werden wir die Sache mal ganz brutal vertanzen.“ Das tun sie. Die wieder zusammen gesammelte Truppe – im Wendejahr gegründet und fünf Jahre später aufgelöst – hat, so hört man, nur sieben Tage statt der geplanten mehrwöchigen Wiederaufnahmeproben gebraucht, um das Stück im Körpergedächtnis zu aktivieren. Zur allgemeinen Begeisterung. Festival-Leiterin Christiane Winter will mit solchen Wiederaufnahmen – eine für freie Gruppen seltene Vokabel – „Tanzerinnerungen“ schaffen. Und die gebären auch Neues. Zum Beispiel das „theatralische Konzert“ „Tenyearsafter“, mit dem Fabian heute Abend seine Wende-Thematik weiter verfolgt. Dann sind die langen Zöpfe, eines seiner Markenzeichen, radikal gekappt, von der Fahnenparade bleiben nur Stangen. Und die viel zu großen Klamotten der TänzerInnen sehen zwar nach Slapstick aus, umschlabbern aber aggressive Individuen, die sich ihr Verscheißert-Sein nicht eingestehen wollen. Ein Stück „am Rande des Tanzes“, begleitet vom „Höhere Gewalt Orchester“.

Mit Raimund Hoghe ist, nach Fabian, ein weiterer Träger des „Deutschen Produzentenpreises für Choreografie“ auf dem Festival vertreten. Die Uraufführung seiner „Tanzgeschichten“ (Sonntag im Ballhof) über die Biografien charismatischer TänzerInnen wäre ohne die Vorfinanzierung durchs Preisgeld auch gar nicht möglich gewesen. Für die aktuelle Tendenz zu intimen Formen stehen unter anderem Anne Teresa Keersmaekers „Small Hands“ und Vicente Sáez „Talismán“, der im kleinen Haus des Braunschweiger Staatstheaters uraufgeführt wird. Insgesamt zeigt das Festival 15 Produktionen auf acht Bühnen, bevor es kommenden Samstag mit einer Uraufführung der Israelis Roni Haver und Guy Weizman endet.

Das in den Niederlanden lebende Choreografen-Duo setzte schon im vergangenen Jahr mit „Freiheitsdreck“ einen furiosen Schlusspunkt, diesmal ist mit „The language of walls“ ein energiegeladenes Stück über „das Zusammenleben unter Frauen“ angekündigt.

Im Vergleich zum Vorjahr hat sich der Anteil Braunschweiger Veranstaltungen im Festival erhöht, was nicht nur im Sinn der fördernden Landesinstitutionen ist: „Sollte es um Kürzungen gehen, ist der Aufschrei nicht nur in einer Stadt“, sagt Winter. In den 90ern stand das Festival tatsächlich schon mal auf der Kippe, doch spätestens seit der Expo, für die der Etat vervierfacht worden war – normalerweise liegt er bei bescheidenen 380.000 Euro – ist die Publikumsgunst gesichert: Das Festival verfügt über eine traumhafte Auslastung um die 95 Prozent.

Programm-Infos: www.tanztheater-international.de. Karten unter ☎ 05 11/16 84 12 22 (Hannover) oder ☎05 31/1 23 45 67 (Braunschweig)