Von Angesicht zu Angesicht

In ihrem Stück „One-Way Ticket to: Paradise“ geht die Regisseurin Katja Roloff der Migration und dem Warten auf andere Welten nach. Dabei geht es ihr und ihren jungen Laiendarstellern vor allem um persönliche Geschichten

Sie sitzen auf gepackten Koffern, das Flugticket in der Hand. Das Ziel: das Paradies. Doch vorerst endet die Reise der vier Jugendlichen aus der Ukraine, dem Kosovo und der Türkei im Warteraum, genauer gesagt in der Boarding-Area von Paradise Airlines. Wie eine kaputte Schallplatte leiert es aus dem Lautsprecher: „Ihr Flug verzögert sich um einige Minuten.“ Acht Stunden lang.

Das ist der Anfang des Theaterstücks „One-Way Ticket to: Paradise“. Laut Regisseurin Katja Roloff steht das endlose Warten im Stück für die „absurde Situation“ vieler Migranten: „Sie wollen ein neues Leben anfangen, dürfen aber nicht“, erklärt die 23-jährige Studentin der Interkulturellen Fachkommunikation. Auf dem Weg zum Paradies erzählen sich die Jugendlichen im Stück zum Zeitvertreib ihre Geschichten – wahre Geschichten, die hier in Fiktion verwandelt werden. Basierend auf der Autobiografie „Ein Chinese mit dem Kontrabaß“ von Han Sen – der Autor wurde 1925 in Berlin geborenen, ging mit seinen Eltern 1940 nach China zurück und emigrierte 1957 in die Sowjetunion – entwickelten die Laien-Schauspieler ihre Rollen selbst.

Da ist zum Beispiel der Sänger Rodi, der aus der Türkei kommt, aber Kurde ist. In seiner Heimat darf er seine Muttersprache nicht sprechen, also singt und spricht er in seiner eigenen Sprache: Dromsch, der Traumsprache. Oder da ist Kawa Bejndar, der vor dem türkischen Militärdienst flieht, weil er stundenlang strammstehen musste, viel länger als die türkischen Soldaten.

„One-Way Ticket to: Paradise“ ist Teil des Festivals Oral Histories, das sich dem Erzählen persönlicher Geschichten von Angesicht zu Angesicht widmet. „Als Zuschauer fühlt man sich eher angesprochen, wenn es persönlich wird“, erklärt Ewa Bienkowska, die das Festival gemeinsam mit Katja Roloff auf die Beine gestellt hat. Im Erzähltheater sitzen deshalb auch das Publikum und die Schauspieler im selben Raum, die Zuschauer werden direkt angesprochen und können im Anschluss Fragen stellen.

Doch nicht nur im Theater, auch in den anderen Erzählformen des Oral Histories Festivals steht das Thema Migration im Zentrum. Ewa Bienkowska selbst ist in Polen geboren und kam 1981 mit ihrer Mutter nach Berlin. „Noch immer lebe ich zwischen zwei Welten“, erzählt sie. In ein anderes Land zu kommen – was bedeutete das vor hundert Jahren, während der Gastarbeiterwelle, was bedeutet es heute? Drei Wochen lang hat Ewa Bienkowska 16 Migranten und Deutsche im Alter von 16 bis 22 Jahren auf ältere Einwanderer treffen und sie ihre Geschichten aufzeichnen lassen. Daraus entstand eine Anthologie, aus der auf dem Festival gelesen – und ein Dokumentarfilm, der dort gezeigt wird.

Dabei gestaltet es sich gar nicht so einfach, seine persönliche Story preiszugeben. „Es ist schwierig, ältere Menschen zu überreden, öffentlich von sich zu sprechen“, sagt die 18-jährige Shkurte Smajlaj aus dem Kosovo. Sie selbst wollte aber nicht länger warten. Deshalb hat die Schülerin nicht nur an der Anthologie, sondern auch beim Erzähltheater mitgearbeitet. Auch der Kurde Cüneyt Bingol, der den Exsoldaten spielt, wollte unbedingt etwas erzählen: „Ich will, dass die Leute die Wahrheit sehen“, sagt der 26-Jährige.

Nicht immer gelingt es, Realität und Fiktion zu trennen. Auch in der Wirklichkeit verbringen die Schauspieler viel Zeit mit Warten: Sie warten auf Bingol, der jetzt nur noch selten proben kann, weil er eine Arbeit gefunden hat. Oder auf Shkurte Smajlaj, die nun doch aufs Gymnasium darf. „Paradies, das steht natürlich nicht für ein Land, sondern für die ganz persönlichen Ziele eines jeden“, erklärt Katja Roloff. Im Stück träumt der Sänger Rodi davon, Dromsch-Pop bekannt zu machen, Florentina, gespielt von Smajlaj, will ein Benefizkonzert im Kosovo organisieren. Ob der Flug jemals losgeht– das wird nicht verraten. Im wirkliche Leben ist Smajlaj mit ihrer Aufnahme auf dem Gymnasium ihrem Ziel schon näher gekommen. „Ich habe eine Zukunft!“, ruft sie und hüpft fröhlich durch das Theater. KATRIN ARNHOLZ

Heute, 21 Uhr, 15. 8., 20 Uhr, Prime Time Theater, Osloer Str. 16. Festivalprogramm: www.oral-histories.de