: Highlights hinter der Tribüne
„Urbane Rituale“: Massenphänomen Fußball und Minderheitenthema Tanz trafen sich am Millerntor
Saufen und lautes Gegröle: Es soll Menschen geben, die so etwas abschreckt und die daher noch nie im Millerntorstadion waren. An diesem Initiationsabend konnten sie mindestens zwei Erkenntnisse gewinnen: Erstens können leere Bierflaschen Kunst sein, zweitens raue Männerstimmen Musik.
„Urbane Rituale“, eine Veranstaltung der Tanzinitiative Hamburg, untersuchte das Massenphänomen Fußball mit den Mitteln des Minderheitenphänomens Tanz. 20.000 Zuschauer passen normalerweise ins Stadium des FC St. Pauli, nur ein paar Hundert sitzen bei diesem Experiment auf der Tribüne. Dafür ist dieses Verhältnis auf dem Rasen umgekehrt: Bis zu 150 Mitwirkende, darunter Mitglieder einer Hamburger Seniorentanzgruppe und die vierköpfige Retina Dance Company aus London, erobern den Raum – ganz ohne Torjagd. Da provoziert gleich die erste Choreografie Beifallsstürme auf den Rängen: Über den Rasen verteilt stehen 35 Männer und Frauen einzeln und zu zweit. Angestachelt von einer Trillerpfeife, ballen sie sich nach und nach zu einer aggressiven Meute zusammen. Wie eine Mauer drücken sie eine einzelne Tänzerin zum Ausgang.
Was dann allerdings auf dem Rasen folgt, ist eine etwas unmotivierte Mischung aus Aerobic-Übungen, Standardtänzen und Modern Dance, gewürzt mit Technomusik und Liedern vom WorldMusicChor aus Hamburg. Das Experimentelle, Unfertige, Improvisierte überwiegt das vorsichtige Ausloten und Begreifen eines für Tänzer ungewöhnlich großen Raums. An die Tradition der Hamburger Bewegungschöre und des Ausdruckstanzes großer Gruppen aus den 20er Jahren sollte hier angeknüpft werden, doch zu groß war wohl die Scheu, wirklich bewegende Momente im Massentanz zu erzeugen – die nämlich könnten an faschistische Aufmärsche erinnern.
Kaum gezügelte Power dagegen auf der Fantribüne: ein echter Fanclub, die Ultras St. Pauli, mit Gesängen und Sprechchören. Die wahren Höhepunkte finden nicht auf dem Platz statt, sondern hinter den Tribünen. Dort stehen Frauen in weißen Gewändern wie Schlafwandlerinnen vor nachtschwarzen Bäumen, strecken sich auf der Böschung aus, dazwischen glitzert in den Sand gestecktes Besteck. Am Absperrgitter drängeln sich Tänzer in fleischfarbener Wäsche. Und hinterm Eingang fügen sich Hunderte exakt aufgestellter leerer Bierflaschen zu einer Installation übers schöne Trinken. Endstand: 1:0 für Individualität und kleinräumiges Spiel. KARIN LIEBE