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Archiv-Artikel

Die Entsetzte

Sie schritt während ihres kurzen Lebens stetig auf dem Grat zwischen Normalität und Wahn – und die Nazis ließen sie das mit dem Leben bezahlen: In Bremen sind derzeit Werke von Elfriede Lohse-Wächtler zu sehen, die Prostituierte, Trinker und, später, ihre eigenen Mitpatienten in der Psychiatrie malte

Porträts als Vorboten der sich bereits deutlich abzeichnenden gesellschaftlichen und persönlichen Katastrophe

VON JENS UTHOFF

„Patientin unverändert. Malt und zeichnet den ganzen Tag.“ So lautet ein lapidarer Eintrag der Krankenakte Elfriede Lohse-Wächtlers von 1929, die in der Psychiatrie Friedrichsberg angelegt ist. Die in Dresden geborene Künstlerin hatte dort ihren ersten Klinikaufenthalt. Drei Jahre später folgte der nächste, diesmal dauerhaft. Ein langes Vegetieren nahm seinen Lauf, später bemächtigten sich die Nazis der Psychiatrie. Nach Zwangssterilisation und Entmündigung wurde Lohse-Wächtler 1940 im Rahmen der Tötungsaktion „T4“ ermordet.

Das Paula Modersohn-Becker Museum in Bremen zeigt derzeit Bilder Elfriede Lohse-Wächtlers, die ihre Lebensgeschichte nachzeichnen. Als selbstbewusste Künstlerin der Dresdener „Sezession“ der frühen Weimarer Zeit, als Wandlerin zwischen den Welten in St. Pauli, als gebrochene Persönlichkeit in den psychiatrischen Anstalten. Jeder Raum widmet sich einer signifikanten Schaffensphase. Insgesamt sind 73 Werke zu sehen.

Den Anfang der Ausstellung bilden Lohse-Wächtlers Selbstporträts, meist in Pastell und Bleistift. Man sieht ein Frauengesicht mit kantigen Zügen, an einer Zigarette ziehend. Abwesend schaut die Künstlerin in die Ferne. Das Bild entstand zu Beginn der Weimarer Zeit; für Frauen galt damals ein solches Motiv noch als Provokation. Ihren Ruf als selbstbewusste Künstlerin errang Lohse-Wächtler auch durch Selbstporträts wie „Die Absinth-Trinkerin“, das sie in starker, hedonistischer Pose zeigt. Außerdem finden sich hier Akte ihrer selbst; neben Paula Modersohn-Becker war Elfriede Lohse-Wächtler damals die einzige Künstlerin, die so etwas wagte. Daneben gibt es Porträts ihres Bruders, deren Leichtigkeit noch am ehesten dem Stereotyp der Goldenen Zwanziger entspricht.

Im nächsten Raum finden sich Nahaufnahmen aus St. Pauli. Es sind Straßen- und Bordellszenen, allesamt mit direktem, schonungslosem Zugriff präsentiert. Lohse-Wächtler selbst erlitt während dieser Jahre materielle Not. Sie war zeitweise obdachlos und existenziell bedroht. Von dieser Stimmungslage zeugen Bilder wie „Die Entsetzte“, eines ihrer Typenporträts, bei dem sich die echte Verzweiflung eines Frauengesichts mit angedeuteten Clownszügen vermischt. Es ist der Bruch auf den zweiten Blick, der Irritation auslöst. Überhaupt hat man den Eindruck, das so manchem Porträt Clowneskes unterlegt ist, das sich nicht sofort enthüllt.

Die frühen Klinikbilder dann offenbaren als einzige einen eher expressionistischen Zugang, angereichert um vereinzelte neusachliche Impulse. Meist aber dominiert ein realistischerer Duktus, angereichert um ein Quäntchen Dämonie. Doch dämonisch ist weniger die Künstlerin selbst, als vielmehr ihre Umgebung – dies suggeriert Lohse-Wächtler jedenfalls: Auf dem Bild „Vor dem Hauptgericht“ wird der Kopf einer Malerin auf dem Silberteller serviert, während eine Aristokratenfamilie speist. Die bald kopflose Künstlerin malt trotzdem unbeirrt weiter – allerdings unter dem Tisch.

Zentraler Bestandteil der Bremer Ausstellung sind auch die so genannten „Friedrichsberger Köpfe“.

Eindringliche Porträts von Lohse-Wächtlers MitpatientInnen sind dies, die authentischer kaum sein könnten. Man begegnet diesen Menschen auf Augenhöhe, blickt ihnen in die von Krankheit gezeichneten, oft, aber nicht immer verzweifelten Gesichter. Bilder wie „Der Kriechende“ oder „Die Blumenalte“ gehören hierher; sie werfen ganz nebenbei die Frage nach „Normalität“ und deren äußerer Manifestation auf. Spektakulärer aus Sicht des damaligen Publikums waren allerdings Arbeiten wie das Porträt der Prostituierten „Lissy“, das für großes Aufsehen sorgte.

Lohse-Wächtler war schonungslos realistisch, hielt sich und ihrer Umwelt immer wieder schonungslos den Spiegel vor. Aus der gleichen Schule wie Otto Dix stammend, entwickelte sie einen Stil, der vor allem einer anderen Zeitgenossin ähnelt. „Verwandt ist das Werk Lohse-Wächtlers vor allem dem Jeanne Mammens“, so Verena Borgmann. Was die zwischen Neosachlichkeit und Symbolismus verortete Mammen für Berlin, sei Lohse-Wächtler für Hamburg gewesen. Wer mag, kann die abgründigen Gesichter auf ihren Bildern überdies als Vorboten der sich abzeichnenden gesellschaftlichen Katastrophe interpretieren.

Der Schaffensdrang Lohse-Wächtlers hielt allerdings nicht an. 1931 kehrte sie – psychisch zunehmend labiler – nach Dresden zurück, um wieder bei ihren Eltern zu wohnen. 1932 wurde sie in die Anstalt Arnsdorf eingewiesen und malte kaum noch. Später, in den Psychiatrien des NS-Staates, gar nicht mehr. Elisabeth Lohse-Wächtler wurde 1940 in Pirna-Sonnenstein deportiert, wo die Nazis sie ermordeten. Sie wurde 41 Jahre alt.

Die Ausstellung ist bis zum 3. 5. 2009 im Bremer Paula-Modersohn-Becker-Museum zu sehen