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Archiv-Artikel

Barsch am Straßenrand

Zu dem tiefen Kreidesee in Hemmoor kommen Taucher sogar aus dem Ausland. Er bietet Sichtverhältnisse wie im Meer und die Unterwasserlandschaft eines ehemaligen Bergwerks

Die Gegend ist bizarr und kann dir hinter jeder Ecke eine Überraschung bieten

von Gernot Knödler

Den Rüttler haben sie vor ein paar Jahren dicht gemacht. Es hatte einfach zu viele Unfälle gegeben im Zusammenhang mit dem 32 Meter tief gelegenen Betonbau und seinen unterirdischen Gängen. Zu leicht lässt sich in der Anlage, in der einmal Kreide von Flintsteinen getrennt wurde, die Orientierung verlieren, zu leicht können sich Taucher verheddern und in Panik ihr Leben gefährden. Vielleicht gerade deshalb ist der Rüttler die bekannteste des an Attraktionen nicht armen Kreidesees im niedersächsischen Hemmoor, 30 Kilometer östlich von Stade.

Rund 30.000 Taucherinnen und Taucher kämen im Jahr nach Hemmoor, sagt Holger Schmoldt, der seit 1986 den Tauchbetrieb am Kreidesee organisiert: der größte Teil aus Norddeutschland, zehn Prozent aus dem Ausland. Am See gibt es einen Campingplatz mit Ferienhäusern, so dass Taucher und andere Gäste problemlos übernachten können.

Durch die Taucherbrille betrachtet, sucht der Kreidesee in Deutschland seinesgleichen: 60 Meter tief, mit Bäumen, ehemaligen Bergwerksanlagen und diversen Wracks unter Wasser, die – bei Binnenseen eher selten – auch angesehen werden können. Die Sichtweite kann bis zu 25 Meter betragen, vor allem, wenn wenige Taucher unterwegs sind, die Sediment aufwirbeln. „Am Wochenende kann‘s schon mal auf einen Meter runtergehen“, räumt Schmoldt ein. Ein vergleichbares Taucherlebnis ermöglicht in Norddeutschland lediglich der Helene-See bei Frankfurt (Oder), ebenfalls ein ehemaliger Tagebau.

Der Kreidesee reizt viele Taucher auch wegen seiner Tiefe. Viele „Tech-Diver“, Leute die „Trimix“ atmen, ein spezielles Gasgemisch, damit sie die für Pressluft-Taucher geltende Grenze von 40 Metern überwinden können. „Das sind meist Wrack-Taucher, die zum Beispiel in Scapa Flow 150 Meter runter wollen“, sagt Schmoldt. In der dortigen Bucht hat sich die von den Briten nach dem Ende des Ersten Weltkrieges internierte Deutsche Hochseeflotte selbst versenkt.

Neben den High-Tech-Tauchern im Trockenanzug trainieren – ganz ohne Atemgerät – auch Apnoe-Taucher im Kreidesee. Seitdem die Deutschen Meisterschaften im Tauchen mit Luft anhalten in Hemmoor stattgefunden haben, gibt es ein Seil mit Markierungen, an dem die Apnoe-Leute hinabtauchen können. Pressluft-Sporttaucher müssen sich jedoch nicht grämen, dass sie den See-Grund nicht erreichen können: Angeblich gibt es dort ohnehin nichts zu sehen.

Ganz im Gegenteil zu den weniger tiefen Regionen, in die zudem Sonnenlicht dringt. Besonders für die Ausbildung von Anfängern geeignet hält Schmoldt zum Beispiel die Pflasterstraße, die geradewegs zum Rüttler in 32 Meter Tiefe hinabführt. „In dem Bereich zwischen der Straße und dem Ufer stehen viele kleine Bäume, die leider immer mehr Äste durch unvorsichtige Flossenschläge verloren haben“, schreibt Schmoldt auf der Homepage seiner Tauchbasis (www.kreideseetaucher.de). Nach der Laichzeit stünden hier Schwärme von kleinen Barschen. An anderen Stellen tummeln sich Stichlinge, Zander, Lachse, Regenbogenforellen, Rotfedern und armdicke Aale.

Die Hamburger Sporttaucherin Brigitte Jensch erkundet besonders gerne die Steilwand unterhalb einer Mühle am Ufer. „Wenn gute Sicht ist und du tauchst da längs, dann ist das wie in einer anderen Welt“, schwärmt sie. Dort zu tauchen sei spannend: „Die Gegend ist bizarr und kann dir hinter jeder Ecke eine Überraschung bieten“, sagt Jensch. Es braucht nur eine Schattenzone zu kommen und der Pulsschlag erhöht sich, was einerseits schön ist, andererseits aber von Tauchern gar nicht geschätzt wird. Denn ein schneller schlagendes Herz saugt mehr Luft aus den Flaschen und verkürzt so den Tauchgang.