: Das Fest der Verschwendung
Teddy, der Inkommensurable (9): Die Kulturindustrie war Theodor W. Adorno natürlich ein Gräuel. Die Mode aber faszinierte ihn – ein Reich der zauberhaften Freiheit von Individualität und Identität
von ULF POSCHARDT
Philosophie war immer auch Mode. Lieber sprach man von Denkschulen, ästhetischer von Stilrichtungen, erst im 20. Jahrhundert wird das Modische des Denkens, der Ideen und Paradigmen angenommen und akzeptiert. Am Ende der großen Erzählungen stehen Ideologietrends, Theoriekollektionen und Meinungsdefilees. Adorno war sich wohl bewusst, dass die späten 60er-Jahre einen Popularitätsschub der Kritischen Theorie mit sich brachten, der nicht zuletzt von der Denk- und Protestmode der Studenten getragen wurde. Adorno war ein Theoriepapst – in jenem ironischen Sinne, der in einer säkularisierten Gesellschaft Päpste nur im Plural duldet. Adorno erschrak. Er war Teil der Gegenkulturindustrie. Er war als bedeutendster Philosoph der Kritischen Theorie für die aufmüpfigen Bürgerkinder eine Ikone. Ein Popstar. Zum 100. Geburtstag werden aus allen Feuilletons Adorno-Fanzines. Die „Minima Moralia“ sind zum Jeans-Stoff der Kritischen Theorie geworden. Und Mode-Fanzines wie GQ machen wunderbare Adorno-Geschichten.
Ein Massenphänomen. Konfektion von der Stange. Das, was Adorno, den letzten großen Bürgerphilosophen, an der Mode faszinierte, war die Haute Couture. „Große Künstler seit Baudelaire waren mit der Mode im Komplott“: Verhältnismäßig lapidar strich Adorno die Gemeinsamkeiten zwischen Mode und Kunst ein, was ihren Instinkt für die Jahreszahl betrifft. Einig sind sie sich außerdem „in der Aversion gegen Provinzialismus, gegen jenes Subalterne, das von sich fernzuhalten den einzigen menschenwürdigen Begriff künstlerischen Niveaus abgibt“. Das Modische als das Zeitbewusstsein der Kunst rettet sie vom Drang zum Ewigen und Pathetischen. Modisch ist nicht-klassisch. Sie belässt Dinge offen und unvollendet, divergent und widersprüchlich.
Theodor W. Adorno hat ein relativ fortschrittliches Verständnis für die Mode entwickelt, weil sie die Dinge leicht hielt und sich so spielerisch jedem Jargon von Eigentlichkeit entzog. Als Positivismusfeind fand Adorno in der Mode einen Referenzboden eigener Negativität. Das stets Verneinende, Gegenwart Verleugnende, Unstete der Trends – diese innere wie äußere Zerrissenheit – interessierte Adorno; dort wo sie es nicht war, sondern böser Alltag, sah er in ihnen Metaphern für das beschädigte Leben – wie bei den Pantoffeln, die er dafür hasste, dass man in sie hineingelangen konnte, ohne sich bücken zu mühen. Die verweigerte Mühe als Sinnbild für einen geschwundenen Lebensmut.
Adorno hasste die Bürger, weil er einer der Ihren war und weil so viele von ihnen den Allerbesten unter ihnen, den Juden, so unendlich viel Leid zugeführt hatten. Er sah in den Bürgern etwas, dass verdorben war bis ins Mark. Und doch konnte er bei seinen reichen Gastgebern in New York nicht aufhören, voller Emphase zuerst auf deren maßgeschneiderte Anzüge, Schuhe und Kostüme zu starren und dann darüber zu schreiben. Stil bedeutete eine Erlösung im Ästhetischen, ohne die Verbindlichkeit eines Weltentwurfs mit beinhalten zu wollen. Es waren die Masken vor dem Ich, die vor Intimität schützten und gleichzeitig verführten. Die zauberhafte Freiheit von Individualität und Identität. Mit der Mode wurde das Ich-Sagen überflüssig oder in sich widersprüchlich.
Das Nicht-Modische als das Funktionslose innerhalb einer funktionsorientierten komplexen bürgerlichen Gesellschaft ist eine der Bestimmungen „bedeutender Kunst“. Doch dieses Nicht-Modische, Funktionslose, Objektive ereignet sich bei der großen Kunst und kann nicht gezüchtet werden. „Die Kunstwerke, sterbliche menschliche Gebilde, vergehen offensichtlich um so rascher, je verbissener sie dem sich entgegenstemmen“, bemerkt Adorno in seiner „Ästhetischen Theorie“ trocken. Das Modische hat dieses Wollen nicht, ganz im Gegenteil. Es definiert sich als gegenwartsbezogene Antithese zum Ewigen. Für diesen Schneid, ganz im Hier und Jetzt aufzugehen, empfindet Adorno mehr als Sympathie. „Die exponiert sich vorwagenden, dem Anschein nach ihrem Untergang entgegeneilenden Werke pflegen bessere Chancen des Überlebens zu haben als die, welche um des Idols der Sicherheit willen ihren Zeitkern aussparen […]. Denkbar, heute vielleicht gefordert sind Werke, die durch ihren Zeitkern sich selbst verbrennen, ihr eigenes Leben dem Augenblick der Erscheinung von Wahrheit drangeben und spurlos untergehen, ohne dass sie das im geringsten minderte. Die Noblesse einer solchen Verhaltensweise wäre der Kunst nicht unwürdig, nachdem ihr Edles zur Attitude und zur Ideologie verkam.“
Adorno macht an dem Punkt, wo sich Kunst ganz dem Verschwinden überantwortet, erstaunliche Zugeständnisse an das Modische, das doch als eines der Grundbestimmungen der Kulturindustrie gelten kann. Der Neomanismus der Mode hätte Adorno, wenn er denn gewollt hätte, auch mit der inneren Logik des Kapitalismus versöhnen können, weil in ihm jene Negation, die er selbst dem Wesen der Ästhetik als maß-gebend vorgeschrieben hat, sich mutwillig austoben darf. Adorno hat Pop nicht verstehen können, weil die ewige Kraft der Negation, die im Pop schlummert und wirkt, seine eigene singuläre Omnipotenz hätte relativieren können. In den unverdächtigen Nebenbemerkungen über die Mode öffnet sich ein kleiner Spalt seines Verständnisses zum Faszinierenden abseits von Beckett, Kafka und Schönberg. „Die üblichen Deklamationen gegen Mode, die das Vergängliche dem Nichtigen gleichsetzen, sind nicht nur dem Gegenbild einer Innerlichkeit gesellt, die politisch so sehr sich kompromittierte wie ästhetisch als Unfähigkeit zur Entäußerung und Verstocktheit im individuellen Sosein. Trotz ihrer kommerziellen Manipulierbarkeit reicht Mode in die Kunstwerke tief hinein, schlachtet sie nicht nur aus. Erfindungen wie die Picassosche der Lichtmalerei sind wie Transpositionen der Experimente der haute couture, Kleider aus Stoffen lediglich mit Nadeln für einen Abend um den Körper zu drapieren, anstatt sie im herkömmlichen Verstande zu schneidern.“
Die Vergänglichkeit einer Stoffkreation für nur einen Abend als die reinste Form des Modischen. Die Leichtigkeit und Unverfänglichkeit der Mode kann der „hohen“ Kunst entscheidende Impulse geben. Da der Wahrheitsgehalt eines Kunstwerks „bis ins Innerste geschichtlich“ ist, bleibt die Versammlung der Gegenwart im Modischen ein wichtiges Kondensat von Aktualhistorie. Mehr Jetzt als in der Mode oder in anderen Phänomenen der Popkultur gibt es nicht.
Das Rimbaud’sche „il faut etre absolument moderne“ war für die Kritische Theorie mehr als normative Herausforderung, es war der kategorische Imperativ aller Denktradition, die sich im Geiste Hegels entwickeln konnte. In der Mode, ihrem sinnlos turbulentem Treiben durch die Zeit, wühlt etwas, wo sich nichts mehr setzen soll und darf: gegen die Instrumentalisierung der Vernunft, gegen die Verhärtung von Strukturen, gegen die Gewissheit einer Hoffnung. Die Zuversicht der Mode war die, dass sie morgen schon vorbei und passé war. Sie ist sich selbst skeptisch bis hin zur Selbstauslöschung.
Adorno war skeptisch bis in den innersten Kern seiner Syntax. Die Existenz eines Ortes wie Auschwitz war für Adorno mehr noch als das Verschwinden des Proletariats als Subjekt des geschichtlichen Fortschritts eine Erschütterung, die sein Denken in jeder Faser durchdrang. Aufgewachsen in der Idylle einer wohlhabenden, assimilierten, kultursinnigen jüdischen Bürgerfamilie, blieb die Vertreibung aus dem Paradies eines Antisemitismus-freien Lebens, wie das im Frankfurt der 20er-Jahre, ein Schock, dessen Urgewalt Kritik und Negation als Fundamentalmechanik im Werk Adornos implantierte. Die bürgerliche Welt des Nachkriegsdeutschlands blieb ihm ebenso fremd wie sein amerikanisches Exil in New York und Los Angeles. Grundsätzlicher noch als die jeweiligen gesellschaftlichen Formationen hatte Adorno eine Abneigung gegen fast alle Formationen von Kollektivität. Weder als Linker noch als Jude, weder als Deutscher noch als Anti-Deutscher, weder als Philosoph noch als Künstler fühlte er sich wohl beim Gedanken, Teil von etwas zu sein. Die Zeitgenossenschaft ist so die philosophischste und immateriellste Form der Gemeinschaft, die sich denken lässt. Die Mode ist die Uniform der Zeitgenossen in denkbar freiester Form.
Die Forderung, modern zu sein, lässt sich nicht problemlos in jene übersetzen, die heißt, modisch zu sein. Es heißt aber in beiden Fällen, dem von Hegel normierten Eichmaß der vierten Dimension gerecht zu werden. Und das Fließende, Reißende des Strömens der Zeit zu verstehen. Wer stehen bleibt, wird abgestanden. Für Adorno ein ekliges Gefühl: „Weil jedoch Kunst ihren Zeitkern nicht in stofflicher Aktualität, sondern in ihrer immanenten Durchbildung hat, wendet jene Norm bei aller Reflektiertheit sich an ein in gewissem Sinn Bewußtloses, an die Innervation, den Ekel vorm Abgestandenen.“ In einer Art vorgeschalteten Klärwerks des Zeitgeistes kann sie Sichtungen und Wertungen vornehmen, die dann von den Künstlern verwertet werden, deren Intention im Werk über den Tag hinausreicht. Was Adorno aus mangelndem Wissen übersehen muss, ist die Tatsache, dass viele Modemacher ihre aktuellen Schöpfungen schon perspektivisch auf den Gesamtzusammenhang ihres Werkes und ihres Stiles entwerfen.
Die Freiheit der Mode, wie der Philosoph sie bemerkt, vergisst das Diktum der Funktionalität, das natürlich auch jeder Form von Bekleidung anhaftet, weil er es in der Haute Couture nicht mehr recht vorfinden mag. Die Dekadenz der Funktionslosigkeit, wie es sich die Haute Couture erlauben kann, verlässt die Nützlichkeitsrechnung der Bourgeoisie und betritt den Bereich der grenzenlosen Verschwendung, in der Kleider bis zu 250.000 Euro und mehr kosten können. Sie gehorchen der Ökonomie der Verschwendung und der Übertretung. Haute Couture ist das Fest, das kostet, was es will. Dass Adorno hier seine Emanzipation des Ästhetischen wiederfindet, unterstreicht, wie unabdingbar für sein Verständnis von Kunst die Aufgabe aller bürgerlich nachvollziehbaren Kriterien von Common Sense oder Verhältnismäßigkeit der Mittel war. Sein antitotalitäres Streben danach, alle „Unauflöslichkeit aufzusprengen“, erkennt dann eben auch in der Untragbarkeit von Kleidern deren größte Verheißung. Gegen jeden Sinn stiftenden Zusammenhang und gegen Sinn selbst wird hier zusammengenäht, was nur einen kurz glänzenden Auftritt bekommt und dann wieder alt und vergänglich ist.
Adorno war natürlich ein korrekt angezogener Mann. Seine Anzüge saßen ordentlich, ebenso meist die Krawatte und die weißen Hemdkragen. Als Bürgerphilosoph wäre er nie auf die Idee gekommen, dass seine Kritik an der spätkapitalistischen Gesellschaft durch etwas anderes als seine intellektuelle und damit politische Praxis exekutiert werden könne. Dazu war sein Glaube an die Wirkung des Verstandes – trotz aller Schatten der Aufklärung – zu groß, und dazu war ihm seine Sache zu ernst, als sie in der Unernsthaftigkeit einer Kriegsführung gegen die Symbole dieser Gesellschaft zu kehren. Deren Ordnungsmuster hat er verlassen mit seinem Werk und Wirken.
Durch Adorno und seine fruchtbaren Widersprüche haben sich alte Ordnungsmuster überlebt. Links und rechts erscheinen als Begriffe und Kategorien des 19. Jahrhunderts, die ihren vollen Schrecken im 20. Jahrhundert entfalten und dessen letzte Zuckungen nun im 21. Jahrhundert zu betrachten sind. Die Frage, ob Adorno ein bedeutender „linker“ Philosoph oder vielmehr, wie einige vermuten, „der wahre Konservative“ war, deuten auf das Unzeitgemäße jener Zuordnungs- und Etikettierungsmanie hin.
Die Mode lädt nicht – so wie die Kunst in den Augen Adornos – alle „Dunkelheit und Schuld der Welt auf sich“, sondern verschließt die Augen, nachdem sie gesehen hat, was auch ER sah – um mit Zuversicht weiterzumachen. Aus guten Gründen fehlte Adornos Werken jede Form von Zuversicht. Die Verneinungen Adornos müssen als Gegengift zum verdrängenden, blindwütigen Macher-Positivismus des Wirtschaftswunders verstanden werden. Dieser historische Kontext muss die Adorno-Rezeption der Gegenwart beeinflussen. Heute, vor den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts, muss die Inspirationskraft der Kritik, ihre intellektuelle und poetische Brillanz, ihre innere Dynamik und Wucht als Motor zukunftsträchtiger Umgründungen unserer Gesellschaft in Betracht gezogen werden. Die – von ihm sicher verfluchte – Instrumentalisierung seines Denkens als Prüfstein gesellschaftlicher Freiheiten ist für eine, unsere, bürgerliche Demokratie von großem Wert – auch wenn Adorno diesen Wert in unserer Demokratie nie wirklich entdecken wollte.