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Archiv-Artikel

CHILE, 11. SEPTEMBER 1973 Die Vorgeschichte eines Staatsstreichs

ALS Salvador Allende am 4. September 1970 in Chile zum Präsidenten gewählt wurde, hatte er ein breites Volksfrontbündnis hinter sich. Doch die Hoffnungen der Arbeiter und Landarbeiter auf eine Regierung der „Volksmacht“ gingen nicht in Erfüllung. 30 Jahre später ist diese Zeit, die am 11. September 1973 mit einem Militärputsch endete, noch immer nicht im kollektiven Gedächtnis verankert. „Nur wenn wir die Geschichte unserer Niederlage kennen, können wir die Zukunft in die eigenen Hände nehmen“, sagt einer, der damals dabei war.Von FRANCK GAUDICHAUD *

„Es ist schon fast komisch, heute darüber zu reden. Manchmal erscheint mir alles wie ein Traum.“ Mario Olivares war 1972 bis 1973 als junger Metaller Arbeitervertreter im Industriegürtel Vicuña Mackenna. Was er damals erlebte, war in der Tat ein Traum – ein Tagtraum, den tausende Männer und Frauen, einfache Arbeiter wie Aktivisten der chilenischen Linken, mit ihm teilten. Hernán Ortega war damals Mitglied der Sozialistischen Partei und Vorsitzender der „Koordination der Industriezonen von Santiago“, einer Basisorganisation, die als Reaktion auf die Aussperrungswelle der Unternehmer im Oktober 1972(1) entstand. Heute meint er: „Für mich wie für alle Chilenen stand die damalige Regierungskoalition der Unidad Popular für den Wunsch nach einer anderen Gesellschaft, mit mehr Demokratie und Gleichheit, nach einer Gesellschaft, die es den Arbeitern erlauben sollte, sich frei zu entfalten, und zwar nicht nur in wirtschaftlicher Hinsicht, sondern in allen Aspekten ihres Menschseins.“

Präsident Salvador Allende war durch eine breite Koalition an die Macht gekommen. Der „chilenische Weg zum Sozialismus“, der durch den politischen Kampf der Arbeiter, Bauern und pobladores(2) vorangetrieben werden sollte, war durchaus nicht frei von Widersprüchen. Die Führung der Einheitsgewerkschaft CUT(3) zum Beispiel wurde schnell überrannt, denn die Kommunistische Partei, die als größte Arbeiterpartei des Landes auch in der CUT den Ton angab, war innerhalb der Regierungskoalition bald die moderateste Kraft. Als Transmissionsriemen der Exekutive organisierte die CUT die „Arbeitermitbestimmung“ in den verstaatlichten Betrieben, die man damals den „vergesellschafteten Produktionsbereich“ nannte.

Doch die überwiegende Mehrheit der Lohnabhängigen war von dieser Möglichkeit zu unmittelbarer Einflussnahme ausgeschlossen. Sie hatte kein Recht, sich gewerkschaftlich zu organisieren, und keine Aussicht auf Integration in dieses Mitbestimmungsmodell.(4) Da die radikalste Fraktion der Arbeiterbewegung nicht länger passiv bleiben wollte, organisierten sie sich unabhänigig von der Gewerkschaft und der Regierung, um sich gegen die Aussperrungspolitik der Unternehmer und den immer stärker expandierenden Schwarzmarkt zu wehren. Immer mehr Betriebe wurden besetzt, in der Stadt stieg die Zahl der Streikaktionen, auf dem Land die Zahl der Enteignungen – eine Dynamik, die weit über das von Salvador Allende angekündigte Reformprogramm hinausging.

Die Parole „Crear, crear, poder popular“ („Vorwärts, vorwärts zur Volksmacht“) fand nicht nur beim linken Flügel der Sozialistischen Partei, bei der Aktionsbewegung für Volkseinheit (Movimiento de Acción Popular Unitaria, MAPU) und bei der Christlichen Linken (Izquierda Cristiana, IC) Unterstützung, sondern auch bei der Bewegung der Revolutionären Linken (Movimiento de Izquierda Revolucionaria, MIR), die im Unterschied zu den erstgenannten Parteien nicht an der Regierungskoalition beteiligt war(5). José Moya, damals Mitglied des MIR und in einer Elektronikfirma mit knapp 1 000 Mitarbeitern beschäftigt, erinnert sich: „Es war eine sehr bewegte Zeit, und viele, die mit der Unidad Popular sympathisierten, rebellierten gleichzeitig gegen sie und schlossen sich den Basisorganisationen in den Industriegürteln an. Ich erinnere mich an Versammlungen, wo Vertreter des CUT mit den Basisorganisationen diskutieren wollten und mit eingekniffenem Schwanz abziehen mussten.“ Gleichwohl wandte sich die „Volksmacht“ zu keiner Zeit frontal gegen die Regierung, die in den Augen eines Großteils der Arbeiterbewegung immer noch als „Regierung des Volkes“ galt.

Luis Ahumada machte damals als Student politische Arbeit im Industriegürtel von Santiago: „Das Wichtigste, was wir mit den Basisorganisationen erreicht haben, war eine Solidarität über die Fabrikgrenzen hinweg. Wir haben dazu beigetragen, dass unter den Arbeitern Solidarität entstand: Wenn in einem Betrieb gekämpft wurde, kam Unterstützung aus den Nachbarbetrieben. Und da die Basisorganisationen immer mehr Zulauf hatten, wurden sie nach und nach zu einer festen Größe. Sobald in einer Fabrik ein Konflikt ausbrach, kam von den örtlichen Basisorganisationen Unterstützung.“ Trotz des Streiks, den die von der Opposition beherrschten Gewerkschaften der Transportarbeiter und die Angestellten im öffentlichen Personenverkehr anzettelten, gelang es, die Produktion in den besetzten Betrieben aufrechtzuerhalten. Mario Olivares war als Arbeiter im MIR aktiv: „Wir sind mit der Pistole auf die Straße gegangen und haben die Busse enteignet, um sie den Arbeitern in den Fabriken zu übergeben. Damit die Produktion weiterging. Wir haben die Arbeiter auch von zu Hause abgeholt und in die Fabrik gefahren.“ Mit derselben Begeisterung, die er damals in den Fabrikversammlungen an den Tag gelegt haben dürfte, erinnert er sich: „Wir hatten angefangen, von wirklicher Arbeitermacht zu reden. […] Vielleicht hatten wir nicht immer den nötigen Durchblick, jedenfalls forderten wir eine stärkere Beteiligung in allen gesellschaftlichen Bereichen, nicht nur in der Produktion.“

Der Textilarbeiter Neftali Zuniga, ein Kommunist, leitete die Gewerkschaftszelle beim Konzern Pollack. An die „Produktionsschlacht“ im verstaatlichten Sektor hat er nach wie vor die stärksten Erinnerungen. Damals ging es darum, das Land gegen den Boykott und die Rationierungen zu verteidigen. Stolz erzählt er, wie tausende freiwillig unbezahlte Arbeit leisteten. „Jeden Sonntag gingen wir […] auf die Großplantagen zur Maisernte, um mehr Futtermittel für die Geflügelzucht zu haben. Das ist es, was ich unter politischem Bewusstsein verstehe, und das hätten wir in der arbeitenden Bevölkerung des Landes fester verankern müssen.“

Selbstverwaltung und Arbeiterbasis

ALS Allende im Oktober 1972 drei Generäle in sein Kabinett berief, um wieder Herr der Lage zu sein, wurde die Volksmacht aktiv. Wieder waren es die Basisorganisationen in den Industriegürteln, von denen die entscheidenden Impulse ausgingen. Damals kam die Idee auf, die Basisorganisationen in den Stadtteilen durch „kommunale Kommandos“ organisatorisch zu vernetzen, doch für die praktische Umsetzung blieb nicht mehr genügend Zeit. Nur hier und da entwickelten sich Erfolg versprechende Ansätze – etwa die Zusammenarbeit zwischen dem Industriegürtel Vicuña Mackenna und dem kommunalen Kommando von Barrancas, die sich im Umkreis der Barackensiedlung Nueva La Habana gebildet hatte.

Der Bauarbeiter Abraham Pérez gehörte damals zur Leitung dieser selbs verwalteten Siedlung am Stadtrand von Santiago. „Jede Häusergruppe wählte in freien und demokratischen Wahlen einen Vertreter.“ Ihnen oblag die gesamte Verwaltung, angefangen von der Lebensmittelversorgung über die Unterstützung besetzter Fabriken bis hin zur Aufstellung von Volksmilizen, die im Viertel für Sicherheit sorgten. Noch heute lebt Abraham Pérez in einem armen Viertel, das aus einer Landbesetzung hervorgegangen ist. Doch die Zeiten haben sich geändert, und mit Wehmut denkt Abraham an damals zurück: „Es gab viel Gemeinsamkeit, und jeder im Viertel trug seinen Teil dazu bei. Kriminalität war damals unbekannt. Wir sorgten selbst für unseren Schutz. Und wenn ein Nachbar aus dem Haus ging, ließ er die Tür offen.“

Edmundo Jiles war Gewerkschafter im Industriegürtel Cerrillos. Auf die damaligen Ereignisse angesprochen, erzählt er, sichtlich belebt: „Die meisten von uns waren ja jung, aber die Älteren brachten ihre Erfahrung und ihr Wissen ein. Sie hatten einen mäßigenden Einfluss und sorgten so manches Mal für eine Senkung des Adrenalinspiegels. Aber sie haben uns mit viel Begeisterung unterstützt. Ohne sie hätten wir das alles nicht geschafft.“

Unterdessen organisierte die faschistische Partei „Vaterland und Freiheit“ (Patria y Libertad) im Verein mit der Nationalen Partei (Partido Nacional) und putschbereiten Offizieren in Antofagasta die Konterrevolution. Bereits Ende 1971 hatte US-Präsident Nixon der CIA den Auftrag erteilt, die chilenische Wirtschaft unter Druck zu setzen (to make the economy scream). Ein US-Diplomat in Santiago, Harry Shlaudeman, der 1965 schon an der Invasion in der Dominikanischen Republik beteiligt gewesen war, koordinierte die Zusammenarbeit zwischen CIA und chilenischen Militärs – bis zum verhängnisvollen 11. September 1973.

Mireya Baltra, der für die Kommunistische Partei als Arbeitsminister im Kabinett Allendes saß, erinnert sich: „Die Arbeiter wollten Waffen von mir.“ José Moya erzählt, wie er in seiner Fabrik auf diese Waffen wartete: „Wir haben die ganze Nacht zum 11. September 1973 gewartet, aber die Waffen kamen nicht. Wir hörten Schüsse aus dem Industriegürtel San Joaquín. Dort gab es Waffen, zumindest in der Textilfabrik Sumar. Unser Traum war, dass jeden Moment Waffen kommen und dass wir dann auch kämpfen können. Aber nichts geschah.“ Anders als die Propaganda von General Augusto Pinochet später verkündete, hat es einen „Todesgürtel“ nie gegeben. Von vereinzelten Widerstandsaktionen abgesehen, brach die „Macht des Volkes“ unter der blutigen Repression rasch zusammen.

„Am Tag des Staatsstreichs gab es bei uns Tote auf der Straße. Sie brachten sie auch von anderswo her und warfen sie hier hin“, erzählt Carlos Mujica, Metallarbeiter bei Alusa. „Und wir konnten nichts tun! Ich glaube, am härtesten war die Zeit 1973 und 1974. Später, 1975, hat mich der Geheimdienst auf der Arbeit bei Alusa abgeholt. Sie haben mich festgenommen und in die berühmt-berüchtigte Villa Grimaldi gebracht. Dort kam man auf die parilla, den ‚Grill‘. Das war ein metallenes Bettgestell, auf dem sie einem Elektroschocks an den Beinen verpassten.“

Die Berichte aus jener Zeit der Hoffnung auf eine bessere Welt sind Teil des „Kampfes um die Erinnerung“, der derzeit in Chile stattfindet. Die Amnesie, die die Militärjunta der Bevölkerung in den Jahren 1973–1990 aufzwang, hat dazu geführt, dass dieser Teil der chilenischen Geschichte noch immer weitgehend unbekannt ist. Das kollektive Gedächtnis Chiles konnte sich auch unter den verschiedenen Regierungen der „Concertación Democrática“ (Demokratische Konzertierte Aktion), die in vieler Hinsicht die Politik des Pinochet-Regimes fortsetzten, nicht rekonstruieren. Die Erinnerungen leben fort, doch fragmentiert, atomisiert. Die Geschichten werden nur von den unmittelbar Beteiligten weitergetragen – so sie noch leben.

„Die Vergangenheit ist noch immer wichtig“, schließt Luis Pelliza, der sein gewerkschaftliches Engagement auch nach 17 Jahren Diktatur und 20 Jahren Neoliberalismus nicht aufgegeben hat. „Sie ist Teil der Geschichte, die wir selbst erlebt haben. Nur wenn wir die Geschichte unserer Niederlage kennen, können wir die Zukunft in die eigenen Hände nehmen.“

deutsch von Bodo Schulze