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Archiv-Artikel

Studentenexodus aus Bulgarien

90 Prozent der Absolventen bulgarischer Spezialgymnasien schreiben sich gar nicht mehr zu Hause ein, sondern gehen sofort ins Ausland

In Deutschland stellen die Bulgaren mit rund 15.000 Studenten die zweitgrößte Gruppe

Christina Zachariewa hat große Pläne „Im nächsten Jahr möchte ich nach Belgien gehen und dort meinen Master in Internationalen Beziehungen machen“, sagt sie. Die 20-Jährige mit langen mittelbraunen Haaren und einem wachen Blick wirkt für ihr Alter fast ein wenig zu abgeklärt. Aber ihre Chancen, den Sprung in den Benelux-Staat zu schaffen, sind gut. Die junge Frau studiert in der bulgarischen Hauptstadt Sofia im zweiten Studienjahr Politikwissenschaften an der Neuen Sofioter Universität – einer privaten Hochschule.

Das Besondere an diesem Studiengang ist, dass ausnahmslos alle Fächer auf Französisch unterrichtet werden. Phänomene wie überfüllte Hörsäle, eine mangelhafte Betreuung der Studenten sowie schlecht bestückte Bibliotheken sind hier bislang unbekannt. Maximal 30 Studienplätze sind pro Jahr zu vergeben, in Christinas Jahrgang gibt es sogar nur 20 Studenten. In jedem Semester werden 1.050 Lewa (rund 520 Euro) Studiengebühren fällig – bei monatlichen Durchschnittslöhnen in gleicher Höhe keine Kleinigkeit. Um überhaupt ein Stipendium zu bekommen, müssen die Studenten mit einer 5,5 fast die Bestnote (6,0) vorweisen.

Derzeit büffeln Christina und ihre Mitstreiter Grundlagen in den Fächern Geschichte, Recht, Politik und Wirtschaft, wobei Frankreich einer der Schwerpunkte ist. Sie hat sich vorgenommen, ihren Bachelor, für den normalerweise acht Semester notwendig sind, in drei Jahren zu schaffen. „Ich bin mit der Ausbildung hier sehr zufrieden“, sagt sie. Die Ausstattung der Hochschule sei gut, genauso wie das Niveau der Dozenten, von denen die meisten aus Belgien kommen. Sie habe den Eindruck, angemessen auf künftige berufliche Anforderungen vorbereitet zu werden.

Im vergangenen Januar waren Studenten in mehreren bulgarischen Städten eine der Bevölkerungsgruppen, die wöchentlich protestierten und den Rücktritt der Regierung forderten. Christina war nicht mit ihnen auf der Straße. „Das verändert gar nichts“, sagt sie. Um das Land wirklich nach vorn zu bringen, brauche es junge Leute, und die müssten im Ausland ausgebildet sein. Sollte es mit Belgien klappen, will sie nach dem Master wieder nach Bulgarien gehen. „Ich denke“, sagt sie, „dass ich künftig auch hier gute Möglichkeiten haben werde, um mich zu verwirklichen.“

Diesen Optimismus teilen nicht viele Vertreter der jungen Generation in Bulgarien, das seit dem 1. Januar 2007 Mitglied der Europäischen Union ist. Allein in Deutschland stellten die Bulgaren 2007/2008 mit rund 15.000 Hochschülern nach den Chinesen die größte Gruppe ausländischer Studierender. Ein Großteil davon setzt alles daran, nach dem Abschluss nicht wieder die Heimreise antreten zu müssen.

Auch Orlin Spassow hat den Braindrain bereits zu spüren bekommen. Er leitet den Lehrstuhl für elektronische Medien an der Fakultät für Journalistik der Staatlichen Sofioter Universität St. Kliment Ochridski. Rund 2.000 Studenten werden hier in den Bereichen Journalismus, Public Relations sowie Verlagswesen ausgebildet. „Die besten Studenten bekommen wir gar nicht mehr. Denn rund 90 Prozent der Absolventen von Spezialgymnasien schreiben sich gar nicht mehr an bulgarischen Hochschulen ein, sondern gehen gleich ins Ausland. Die bulgarischen Universitäten sind die Verlierer“, sagt Orlin Spassow. Dabei sei die technische Ausstattung mittlerweile gut. Der 47-Jährige führt mehrere Räume in der Hochschule vor, in denen gerade moderne Rundfunk- und Fernsehstudios eingerichtet werden. In den vergangenen zwei Jahren habe die Fakultät vom Staat 2 Millionen Lewa (rund 1 Million Euro) für Umbaumaßnahmen erhalten.

Um sich europäischen Standards im Rahmen des Barcelona-Prozesses anzunähern, ist die Einrichtung rein technisch betrachtet offenbar jetzt auf einem guten Weg. Doch Kopfzerbrechen bereitet Spassow ein anderes Problem. „Was die inhaltliche Ausgestaltung der Lehre angeht, da hinken wir noch weit hinterher“, sagt er. Die Mehrheit der 37 Lehrkräfte an der Fakultät gehöre mittlerweile der älteren Generation an. Aus Altersgründen freiwerdende Stellen würden häufig nicht neu besetzt. Auch sind die Arbeitsbedingungen für Wissenschaftler an der Staatlichen Universität nicht gerade dazu angetan, jüngere Leute zu motivieren, sich für eine Hochschulkarriere zu entscheiden. Eine volle Professur zu bekommen, ist vor dem Erreichen des 50. Lebensjahres so gut wie unmöglich. Vergütet wird der akademische Marathon dann am Ende mit einem Gehalt von 1.000 bis 1.400 Lewa (umgerechnet 500 bis 700 Euro) monatlich. Das zwingt viele dazu, Nebenbeschäftigungen nachzugehen.

Wegen Geldmangels kaufen die Bibliotheken kaum Bücher im Ausland, aus dem gleichen Grund fehlt auch der Zugang zu großen und wichtigen Datenbanken. Wer an einer Konferenz im Ausland teilnehmen möchte, muss die Mittel dafür selbst auftreiben. „Wir sind international ziemlich isoliert“, sagt Orlin Spassow. Da überrascht es wenig, dass auch immer mehr Hochschullehrer Bulgarien den Rücken kehren. Gleichzeitig wächst der Druck auf die Lehrerenden vonseiten der Studenten. „Denn die reisen jetzt ins Ausland und haben Vergleichsmöglichkeiten. Doch diesen steigenden Anforderungen sind wir derzeit nicht gewachsen“, sagt Spassow. „Da muss der Staat unbedingt mehr investieren.“

Im Gegensatz zu anderen Studienfächern finden derzeit noch alle Absolventen der Journalistenfakultät in Bulgarien einen Arbeitsplatz. Denn der Medienmarkt expandiert. Vielfach kaufen Verlage, Rundfunk - und Fernsehanstalten die künftigen Journalisten schon während des Studiums ein. Der 26-jährige Georgi Mitow, der sein Journalistikstudium gerade abgeschlossen hat, moderiert fünfmal die Woche die dreistündige Sendung „Morgen-Café“ beim Uni-Radio Alma-Mater-Klassik FM. Mit umgerechnet rund 250 Euro kommt er in Sofia gerade so über die Runden. Dennoch macht ihm sein erster Job richtig Spaß. „Natürlich bin ich enttäuscht, dass nach zwei Jahren EU-Mitgliedschaft die ökonomische Situation immer noch so schwierig ist. Da hat sich wirklich nicht viel getan.“ Dennoch denkt er im Moment nicht daran, Bulgarien zu verlassen. „Dazu ist meine Berufsrichtung zu speziell und außerdem bin ich ein Patriot“, sagt er und lacht. „Noch glaube ich fest daran, dass wir jungen Leute hier eine Zukunft haben.“

BARBARA OERTEL