Die Stückeberge unter Kontrolle kriegen

Optisch ist in ihnen ja nicht viel los, dennoch haben sich szenische Lesungen an den Theatern als eigene Form emanzipiert. Was als Form der Nachwuchsförderung begann, hat längst einen ganz eigenen Reiz bekommen

Der Umfang macht staunen: szenische Lesungen, hunderte, im ganzen Land. Ob auf dem Stückemarkt des Theatertreffens, Hamburger Autorentagen, den Mülheimer Theatertagen oder an den Stadttheatern, deren Intendanten erkannt haben, dass eine Lesungsreihe den Spielplan mit zusätzlichem Leben aufwertet. Das Publikum weiß nicht, was es zu erwarten hat, und zwängt sich gerade deshalb in dunkle Studiobühnen und kleine Ladentheater, die nur für diesen Zweck eröffnet wurden. Um neue unverlegte, ungespielte, manchmal packende, oft unspielbar schlechte Stücke zu hören. Und zu sehen: wie die Schauspieler dasitzen und aus ihren Skripten lesen. Die Besetzungen sind oft namhaft, der Raum, auf den sie ausgerichtet sind, bleibt das Theater und verleiht ihnen ferngerücktes Pathos.

Als man vor kurzem auf einer der „Drame!“-Lesungen, die seit einem Jahr im Gorki Studio stattfinden, die Gedankenwindungen der alten Quebecer Greisin „Albertine“ und ihrer fünf Wiedergängerinnen in Michel Tremblays gleichnamigen Stück etwas ratlos verfolgte, da wurde man im folgenden Gespräch von einem Romanisten klug in die Révolution tranquille eingeführt, aus der die frankokanadischen Frauen ihre emanzipatorischen Kräfte geschöpft haben. Kaum vorzustellen, wie ein Regisseur Bilder finden könnte, die dem Stück einen Rahmen geben könnten. Der Übersetzer und Theaterregisseur Johannes von Westphalen hat die Reihe vor einigen Jahren gegründet, um über die wichtigsten neuen französischsprachigen Theatertexte zu informieren. Die Reihe entwickelt ihre eigene Dynamik: Mittlerweile streckt man die Fühler nach asiatischen und lateinamerikanischen Stücken aus. Es geht von Westphalen darum, die ausländische Dramatik auf den Spielplänen nicht so traurig unterrepräsentiert dastehen zu lassen. Dass eine Lesungsreihe diesen Dienst schon erfüllt, liegt in den Zeiten, in denen Intendanten unter erhöhten Legitimationsdruck ihre Premierenstücke auswählen, in der Luft. Lesungen sind billig und testen den Bühnenwert eines Stücks für den Spielplan aus.

Die Frage nach szenischen Lesungen stellte sich Mitte der Neunzigerjahre, als es sich für junge deutsche Autoren wieder zu schreiben lohnte. Regisseure tauchten auf, die ihre Autoren als gleichberechtigte Partner an die Seite nehmen wollten. Die Nachahmungswünsche, die ausländische, vor allem britische Autoren weckten, brachten neue deutsche Stücke hervor: mit temporeicher Handlung, sozialen Beobachtungen, einer verdichteten Sprache – und der szenischen Lesung als Präsentationsform des Theaters, um die Stückeberge unter Kontrolle zu bekommen. Was hat sich seitdem verändert? „Nichts“, sagt Harald Siebler vom Berliner Uraufführungstheater. Immer noch sei der Wunsch an Theatern derselbe, mit einer Uraufführung bundesweit beachtet zu werden, aber die Bereitschaft gering, sich systematisch an der Förderung junger Autoren zu beteiligen. 1998 hat Siebler zusammen mit dem Dramatiker Oliver Bukowski das UAT gegründet, um Autoren eine kontinuierliche Arbeit am Text zu ermöglichen. Die szenischen Lesungen sollen die Schwachstellen aufdecken, an denen der Autor weiter feilen muss. Martin Heckmanns, Andreas Sauter, Bernhard Studlar oder Marc Becker wurden auf diese Weise gefördert, bevor ihre Stücke größere Aufmerksamkeit erregten.

Im Berliner German Theatre Abroad fand im Juni die Urlesung eines neuen Stücks von Roland Schimmelpfennig statt. Albert Ostermaier schreibt exklusiv, das Stück soll auch vom GTA uraufgeführt werden. Als Schauspieler lesen Winfried Glatzeder, Thomas Koschwitz, Christian Brückner oder Nicolette Krebitz. 1997 lernten sich Christian Kahrmann und Ronald Marx in New York kennen und gründeten das GTA, um deutsche Dramatik in Amerika zu präsentieren. Die Himmelsrichtung hat sich geändert: Seit 2002 sind etwa 60 Stücke von hauptsächlich angelsächsischen Autoren in Berlin gelesen worden. Die Themen sind nicht auf eine Formel zu bringen: Liebe, Sex, Ehe, Trennung, Kinder, Tod, Verzweiflung, Hysterie, Drogensucht, Kunst, Sodomie, New Yorker Bohème. Das alte Ladengeschäft ist ästhetisiert heruntergekommen, die Klappstühle sind ausgesessen. Ein Raum, der suggeriert, nicht Theater, sondern Wohnzimmerbar zu sein, und gerade deshalb einer seltsamen Theaterernsthaftigkeit freien Lauf lässt. Ein gangbarer Weg. SIMONE KAEMPF

Drame!, Lesungen monatlich, am 15. 9., 20 Uhr, „Sag meiner Tochter, ich fahr in Urlaub“ von Denise Chalem, Gorki Studio. German theatre abroad, Veranstaltungen jeden Donnerstag, am 18. 9., 20.30 Uhr, „Betty Summer Vacation“ von Christopher Durang, GTA-Shop, Schröderstraße 1