Barbara Bollwahn über Rotkäppchen
: Ein seltsames Völkchen, das Volk

Schon wieder „Wir sind das Volk“ schreien nutzt überhaupt nichts. Und gestimmt hat der Spruch auch noch nie

Diese „Wir sind das Volk“-Rufe, ich kann sie nicht mehr hören. Der Satz ist mir schon damals nicht über die Lippen gekommen. Wie auch. Ich kannte die Leute, die im Herbst 1989 rechts und links von mir in Leipzig ihre Runden drehten, gar nicht.

Ich wusste, was Volkseigentum ist, und kannte selbstverständlich auch die Volkssolidarität. Aber das Volk, das wir plötzlich sein sollten, war mir unbekannt. Sicher hatten wir das gleiche Schicksal. Aber das hieß noch lange nicht, dass wir auch die gleichen Träume hatten. Viele wollten den Kohl und die D-Mark, ich wollte die Freiheit. Als sich dann noch ganze Kollektive einreihten und wie beim Betriebsausflug am Straßenrand gemütlich Bockwurst aßen und so taten, als sei besonders viel Senf darauf Protest, war bei mir Sense.

Deshalb war ich nur bei den ersten Demos dabei, zusammen mit einer Freundin und Arbeitskollegin. Wir waren mächtig stolz auf das Transparent, das wir wahrscheinlich während unserer Arbeitszeit gestaltet hatten und gemeinsam hochhielten in den geteilten Himmel. „Wir lassen uns nicht einKRENZen“, stand da drauf. Aber: Als Volk haben wir uns nicht gefühlt. Wir waren die Barbara und die Ute.

Die Parallelen zwischen denen, die damals „Wir sind das Volk“ riefen und jenen, die das jetzt wieder tun, sind erschreckend. Gucke ich mir die Fernsehbilder von den Montagsdemonstrationen gegen Hartz IV und Arbeitslosengeld II an, denke ich manchmal, die Menschen hätten ihre alten Klamotten wieder rausgeholt, um besonders authentisch zu wirken. Ich will mich nicht lustig machen über Kleiderfragen oder Frisuren, geschweige denn über die Verzweiflung arbeitsloser Menschen in strukturschwachen Regionen. Aber es bringt mich auf die Palme, wenn Menschen glauben, man müsse nur mit den Füßen aufstampfen, größtmögliche Verzweiflung in vier Worte legen, und schon wird alles gut.

Wenn es so einfach wäre, Probleme zu lösen, dann frage ich mich, warum 15 Jahre vergangen sind, ohne dass Volkes Ruf erschallte. Wieso hat sich bei der Abwicklung tausender Arbeitsplätze niemand hingestellt und geschrien: „Wir sind das Volk!“? Oder bei der Erhöhung der Tabaksteuer? Und was ist mit den kilometerlangen Schlangen vor der MoMA-Ausstellung? Ich wundere mich doch sehr, dass so viele Volksvertreter einen halben Tag anstehen, statt sich mit „Wir sind das Volk“ unverzüglich Zugang zu verschaffen. Ein seltsames Völkchen, das Volk.

Au ja. Jetzt weiß ich, was ich machen werde, wenn demnächst auf dem Wochenendmarkt das Rosmarin-Ciabatta wieder um 12 Uhr ausverkauft ist, nur weil der dusslige Bäcker es nicht gebacken kriegt, paar mehr davon in den Ofen zu schieben. Ich werde so lange „Wir sind das Volk!“ vor seinem Brotstand schreien, bis ich ein Rosmarin-Ciabatta kriege. Ob noch eins da ist oder nicht, ist mir egal, bin ja das Volk.

Eine Bestätigung meiner „Wir sind nicht das Volk“-These hat mir die damalige Freundin geliefert, mit der ich das Krenz-Transparent durch die Leipziger Innenstadt geschleppt hatte. Obwohl sie ziemlich weit weg von Berlin wohnte, kam sie mich auffällig oft besuchen, seitdem ich mit dem ersten Westler, der mir nach der Wende über den Weg lief, liiert war. Mit ausgesprochen großem Interesse erkundigte sie sich permanent nach dem Fortgang der Beziehung und tröstete mich hingebungsvoll, wenn ich über ein Problem mit ihm klagte.

Jedes Mal, wenn ich überlegte, mich vielleicht zu trennen, bestärkte sie mich volle Pulle. Ohne zu wissen, dass sie scharf auf meinen Freund war, vertraute ich ihr alles an. Kaum hatten wir uns getrennt, empfing sie ihn mit offenen Armen. So viel zu „Wir sind ein Volk“.

Nicht ohne Schadenfreude habe ich einige Zeit später erfahren, dass es mit den beiden auch nicht geklappt hat. Sie ist dann irgendwann nach Australien ausgewandert. Allein. Dabei hatten wir uns auf einer Arbeitsstelle kennen gelernt, die dafür prädestiniert gewesen wäre, uns ein Volk werden zu lassen: im Leipziger Völkerkundemuseum.

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