Die Kindheit endet auf dem Strich

Auch Minderjährige prostituieren sich. Übers Internet und einschlägige Magazine finden Freier den Kontakt. Zu befürchten haben sie wenig

Es gibt bei jeder Frau einen Punkt, da ekelt sie sich und will nur noch aufhörenEine Erfahrung ist allen Mädchen gemeinsam: Sie suchen Zuwendung

AUS DORTMUND LUTZ DEBUS

Mitten in einer kalten Dezembernacht saß ein Mädchen mit langen blonden Haaren, mit von Tränen verschmierter Wimperntusche und einer viel zu großen Lederjacke um die Schultern in einem Hauseingang, hörte Musik aus einem Walkman. Da kam zufällig eine Mitarbeiterin der Mitternachtsmission vorbei. Sie war auf dem Heimweg, kam von einem dienstlichen Termin. Sie sprach das Mädchen an. Die 15-Jährige brach in Tränen aus. Später berichtete sie, dass sie von zu Hause fortgelaufen sei. Ihre Eltern akzeptieren nicht ihren libanesischen Freund. Die Mitarbeiterin der Mitternachtsmission nahm sie mit in ihr Büro. Dort konnte sich das Mädchen waschen, bekam etwas zu essen. Mehr Hilfe wollte sie nicht. Zumindest nahm sie die Visitenkarte der Mitternachtsmission mit. Drei Wochen später meldete sie sich, Ihr Freund Hussein sei verschwunden. Er habe hohe Spielschulden, sei deswegen schon bedroht worden. Sie sei für ihn schon auf den Strich gegangen. Aber das dort verdiente Geld habe nicht ausgereicht. Dann klagte sie über Schmerzen im Unterleib. So ging eine Mitarbeiterin der Mitternachtsmission mit dem Mädchen zu einer Gynäkologin. Diese diagnostizierte entzündliche Verletzungen an den Genitalien und im Analbereich, Feigwarzen, Gonorrhöe und eine Blasenentzündung. Die Ärztin wies das Mädchen sofort in ein Krankenhaus ein. Um die Behandlung dort zu ermöglichen, musste Kontakt zu den Eltern aufgenommen werden. Das Mädchen willigte ein. Als die Eltern ins Krankenhaus kamen, war das Mädchen schon wieder weg. Sie floh zu ihrem Freund, dieser schlug sie wieder. In den frühen Morgenstunden war sie wieder im Krankenhaus. Es folgten Monate, in denen das Mädchen zwischen ihren Eltern und Hussein pendelte. Sie versöhnte sich mit den Eltern, brach den Kontakt zu Hussein ab, versöhnte sich mit Hussein, brach den Kontakt zu den Eltern ab. Irgendwann wurde sie auf dem Straßenstrich von einem Mann mitgenommen. Dieser fuhr mit ihr in einen Wald. Dort wurde sie von insgesamt vier Männern vergewaltigt. Bevor sie ihr Opfer zurückließen, urinierten sie noch auf das Mädchen.

Katja Barthel kann viele solcher schrecklicher Geschichten erzählen. Die Diplompädagogin berät seit vielen Jahren minderjährige Prostituierte bei der Dortmunder Mitternachtsmission. Während eines bundesweit einmaligen Modellprojektes zählte die Anlaufstelle stadtweit 78 Mädchen, die sich prostituieren. Knapp die Hälfte der Mädchen sind mit Hilfe der Mitternachtsmission mittlerweile wieder ausgestiegen, gehen zur Schule oder machen eine Ausbildung. Bis dahin war es aber ein weiter Weg.

Zunächst ist es für Katja Barthel schwierig, Kontakt zu den Mädchen aufzunehmen. Nicht immer gibt es zufällige Begegnungen auf nächtlichen Straßen wie in dem beschriebenen Beispiel. Minderjährige stehen nicht wie andere Prostituierte an den Straßenstrichs. Schließlich ist das, was sie machen, verboten. Zwar müssen sie keine strafrechtlichen Konsequenzen fürchten, oft aber das Gespräch mit den Eltern oder dem Jugendamt. Und wenn sie gegen ihren Willen auf den Strich gehen, müssen sie auch den Zuhälter fürchten. Viele arbeiten in Appartments. In einschlägigen Kontaktmagazinen und auf Internetseiten finden die Freier Handynummern. So werden sie, für die Zuhälter verhältnismäßig gefahrlos, zu den Wohnungen gelotst. Andere Mädchen, die nicht unter unmittelbarem Zwang stehen, warten an verabredeten Straßen auf die Männer. Allerdings warten sie dort eher unauffällig, fast versteckt.

Wie kommen Mädchen dazu, sich zu prostituieren? Katja Barthel kann keine schnelle Antwort geben. „Die Wege dorthin sind unterschiedlich. Sowohl Kinder aus sozial desolaten Verhältnissen als auch aus der Mittelschicht finden sich im Milieu.“ Für manche Mädchen sei es die Fortführung schon in der Familie erlittenen sexuellen Missbrauchs. Aber auch äußerlich intakte Familien seien betroffen. In den so genannten guten Verhältnissen werden solche Probleme aber eher tabuisiert. „Weg sind sie dadurch natürlich nicht.“

Eine gemeinsame Erfahrung haben viele Mädchen machen müssen, egal woher sie kommen: Die Erfahrung von zu wenig Zuwendung. Dann kommt der Freund, der die wahre Liebe verspricht, für den das Mädchen alles macht. Oder die Schulfreundin, die schon Erfahrungen gemacht hat: „Sex haben alle. Nur Du lässt es Dir bezahlen. In 20 Minuten hast Du so viel Kohle in der Hand wie andere Leute, die einen Monat Zeitungen austragen,“ sagen die dann. Mit Geld können sich die Mädchen dann Zuwendung und Aufmerksamkeit beschaffen, indem sie teure Markenartikel kaufen. Die Schwelle zur Prostitution ist manchmal nicht sehr hoch. Allerdings sind Mädchen auf dem Strich viel gefährdeter als Frauen. Sie lassen sich mehr gefallen, haben noch nicht das Selbstbewusstsein, etwas abzulehnen und die Intuition, gefährliche Situationen zu erkennen. Viele Freier gehen gern zu Minderjährigen, weil sie dort seltener Kondome benutzen müssen.

Und wenn ein Fall von Prostitution mit Minderjährigen aktenkundig wird? Freier und Zuhälter werden selten bestraft. Dabei haben die Eltern der Betroffenen oft den Wunsch, den Zuhälter anzuzeigen. Das wollen aber die Töchter oftmals nicht. Sie müssen in einem solchen Fall vor Gericht akribisch von ihren Erlebnissen erzählen. Oft sind sogar die Zuhälter und viele andere Menschen anwesend. Die Mädchen fürchten auch die Rache von Kollegen der Männer, die sie ins Gefängnis gebracht haben. So überredet die Mitternachtsmission die Mädchen nicht, zur Polizei zu gehen. Sie begleitet sie allerdings, wenn diese sich dazu entschließen und sie vermittelt auch kompetente und sensible Rechtsanwälte.

Überhaupt ist die Mitternachtsmission nicht so missionarisch, wie ihr Name vermuten lässt. Zwar ist der eingetragene Verein an das Diakonische Werk angegliedert. Aber das Bild aus alten Hans-Albers-Filmen passt nicht. Spitzenhäubchen, bodenlanges, graues Kleid, Leierkasten, Sammelbüchse, so half man vielleicht in den Fünfzigern „gefallenen Mädchen“. Die Klientinnen der Mitternachtsmission brauchen nicht den Wunsch zu äußern, auszusteigen. Sie werden auch während der Prostitutionstätigkeit begleitet. Dies gilt für alle Altersgruppen. Katja Barthel glaubt aber nicht an die Mär, dass Prostitution ein Beruf ist wie jeder andere. „Er macht auf Dauer seelisch und körperlich kaputt. Es gibt bei jeder Frau einen Punkt, da will sie nur noch aufhören, weil es sie so anekelt.“

In Schulen betreibt die Mitternachtsmission Präventionsarbeit. Spektakulär war eine Graffiti-Aktion im Hauptbahnhof. Schülerinnen und Schüler einer Realschule gestalteten einen Mädchenkopf. Die Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit war groß. Die Enttabuisierung des Themas kommt den Betroffenen zu gute. Mädchen werden oft ihrer Illusionen beraubt. Katja Barthel: „Die stellen sich vor, eine Prostituierte sieht aus wie Pretty Woman, mit Stiefeln bis zu den Ohren. Dass das oft ganz normale Mädchen sind, erstaunt die schon.“ Und mancher Oberschüler ist der Freier von morgen. Da kann es nur helfen, ihnen schon jetzt die Situation von Prostituierten zu erklären und Verständnis zu wecken. Apropos Freier von morgen. An einer Schule im Dortmunder Norden unterhielt sich Katja Barthel in der Pause mit Schülern. Die Detailkenntnis der Heranwachsenden erstaunte selbst sie.

Hussein übrigens, so erfuhren die Frauen der Mitternachtsmission, sitzt nun im Gefängnis, hat Aussicht auf eine längere Haftstrafe. Und das 15-jährige Mädchen, das für ihn anschaffen ging? Sie wohnt seit fünf Monaten wieder bei ihren Eltern, besucht die Schule. Ihre Tätowierung ließ sie sich entfernen. Auf ihrem Oberarm stand zuvor mit großen Buchstaben Hussein.