: Zwei Inseln in der Lausitz
Pritzen hat Zukunft. Am Ende einer holprigen Allee taucht das Dorf auf. Ein paar Dutzend Häuser. Wie hingeworfen liegen sie hinter dem Ortsschild. Die meisten sind frisch verputzt. Kein Mensch ist auf der Straße. Kein Auto fährt vorbei. Skandiert vom Krähen eines Hahns, durchschneidet ein Rasenmäher nur sirrend die Luft.
In der Mitte des Dorfes steht der hölzerne Glockenturm aus dem 14. Jahrhundert. Eigentlich stammt er aus Wolkenberg, einem abgebaggerten Dorf in der Lausitz. 1993 wurde er hier aufgestellt. Um ihn herum liegt der Gottesacker mit fünf verbliebenen Grabsteinen. Drei sind verwittert, zwei erinnern an ein Unglück: Kurz vor Kriegsende starben 19 Menschen im Feuer. Kischke, Geisler, Weise, Stelling, Pösch hießen sie. „Und zwei russische Mädchen“ ist in kleinen Lettern unten auf dem Stein zu lesen. Namenlos sind sie beerdigt. Die anderen Gräber, die früher hier waren, haben die Leute mitgenommen, als sie damals wegzogen. Heute aber hatten die Neuen noch keine Zeit zum Sterben.
Das Schicksal Pritzens schien 1984 besiegelt. Das 500 Jahre alte sorbische Dorf lag im Tagebau Greifenhain. Braunkohle liegt unter dem Ort. „Beste Ware“, wie Herbert Glatz versichert. Wäre der Bauer nicht, gäbe es keinen, der den Faden über das Schicksalsjahr hinaus spinnen könnte. Geblieben nämlich ist er, als die anderen gingen. Halsstarrig, bauernschlau und stur. Sein Gegenüber taxiert er verschmitzt. Fragen negiert er mit Pausen. Auch sein Alter gibt er nicht preis.
Seit 100 Jahren wird in der Lausitz das „braune Gold“ aus der Erde geschaufelt. Ganze Landstriche werden umgewälzt mit Maschinen, die Bagger, Abraumvorderbrücke und Förderband in einem sind. Der Kohle sind dabei immer ein paar Dörfer im Weg. Horno ist das bekannteste. Seit Jahren wehren sich Leute dort gegen die Bagger.
Aber allein im Loch von Greifenhain, dem Pritzener Schicksalsgraben, versanken Neudorf, Nebendorf, Klein und Groß Jauer. Die Braunkohle der Lausitz werde gebraucht. Mit ihr die Lausitzer. Tagebau, Kraftwerke – Schwarze Pumpe, Cottbus Nord, Jänschwalde – das sei nicht irgendwas. Es gäbe Schlimmeres, als umgesiedelt zu werden, meinen die meisten Leute in der Region bis heute.
Zugegeben, ein paar Dickschädel gibt es immer auf den Dörfern. In Pritzen war es der Glatz. Er wollte seinen Hof und die zehn Hektar Land partout nicht hergeben. Soll kurz vor der Zwangsenteignung gestanden sein, sagt er. Die anderen hatten verkauft, waren weggegangen mitsamt ihren Toten. Auch die alte Feldsteinkirche von Pritzen war 1988 abgetragen und in Spremberg wieder aufgebaut worden.
Anfang der 90er-Jahre schwand das Interesse an der Braunkohle unter Pritzen. Zu tief liege sie, zu weit weg vom Kraftwerk, meint Glatz. Zum Helden eignet sich der Bauer, der zu DDR-Zeiten Leiter des volkseigenen Betriebs war, dennoch nicht. Heute gehören ihm 50 Hektar Land. In 15 Jahren wird vieles davon am See liegen.
„Zufall hat Pritzen von dem Abbaggern verschont“, glaubt Matthias Heinrich. Der Kunstwissenschaftler ist mit Freundin in eines der verlassenen Gehöfte gezogen, hat es gekauft mitsamt dem Hektar Boden. In 15 Jahren wird es unweit vom See liegen.
Zuerst hat sich der Bagger im sichelförmigen Halbkreis um das Dorf gefressen. Dann sollte er umkehren und den Ort schlucken. Dazu ist es nicht mehr gekommen. Jetzt ist die Gemeinde von Norden, Osten und Westen von einem 80 Meter tiefen, fast acht Kilometer langen und mehr als einen Kilometer breiten Graben umschlossen. Seit dem Ende des Tagebaus Greifenhain füllt er sich langsam mit Wasser. Auf 30 Meter ist der Pegel bis jetzt gestiegen. Wenn das Loch voll ist, wird Pritzen auf einer Halbinsel liegen. Badestrand, Landungsbrücke und schwimmender Steg zum gegenüberliegenden Dorf Altdöbern inbegriffen.
Heute wohnen wieder 75 Leute im Dorf. Einige sind die Kinder der Umgesiedelten, manche Städter wollen den Ort lieber als künftige Sommerfrische nutzen. „Ja, es sei schwer, eine Gemeinschaft zu werden“, sagt Glatz. Unterschiedliche Vorstellungen kursieren. „Einige mähen das Gras vorm Haus nicht.“ Der Alte denkt, dass seine Enkel die Früchte seiner Arbeit ernten werden, wenn der See eine Attraktion ist. Er werde es nicht mehr erleben.
Die anderen, wie der Kunstwissenschaftler Heinrich, sehen, dass selbst das Elementarste einer Dorfgemeinschaft noch fehlt: Die Begegnung auf der Straße. Trotzdem wünscht er sich Pritzen in Zukunft nicht als Touristenort mit Bierbuden und billiger Reklame, sondern mit Heimatverein, Kunstscheune und hohem Niveau. Ein Anfang wurde vor fast zehn Jahren gemacht. Damals setzten Land-Art-Künstler ihre Monumente in die steinige Landschaft: Antik anmutende Tempelruinen aus DDR-Betonplatten, neue Kultstätten aus Findlingen, aus Holzbohlen gezimmerte Industriedenkmäler, die in den Himmel ragen. Die Arbeiten sollen eine Verbindung zwischen Kultur und Natur sein. Zu viel verlangt! Denn noch ist die Wirklichkeit roh.
Lakoma ist im Weg. Seit 1983 ist das so mit dem Dorf nördlich von Cottbus. Braunkohlentagebau eben. Aber damals wollten die 200 Bewohner nicht gehen. Als Bittstellerinnen sind die Frauen von Lakoma sogar nach Berlin gefahren und haben Eingaben gemacht bei den Herren vom Politbüro. Erst als man versprach, das ganze Dorf an anderer Stelle neu aufzubauen, haben sie Haus und Hof an das Braunkohlenkombinat verkauft. Nur der alte Kossack nicht. Er ist stur geblieben. Auch als sie das Wirtshaus abrissen, gab er nicht nach. Trotzdem: Pessimisten glauben, dass am Ende nur Kossacks Haus und die Dorfeiche übrig bleiben. Denn hier geht es um David gegen Goliath, um den Stromkonzern Vattenfall Europe Meiningen, Nachfolger des Braunkohlenkombinats, der im Verbund mit dem Brandenburger Landtag große Politik macht, gegen die Dorf- und Naturschützer.
Zwei Drittel der Lakomaer Häuser sind schon weg. Manche waren der Dichtwand im Weg, die am Rand des Tagebaus, an dem das Dorf liegt, eingezogen wurde. Hätte man die undurchlässige Tonschicht nicht in die Erde gebracht, würde die angrenzende Spreeaue durch die Grundwasserabsenkung vertrocknen. Kossacks Haus und die Eiche liegen hinter der Dichtwand. Deshalb sind sie gerettet.
Nach DDR-Planung sollte schon 1997 da, wo heute die verbliebenen Häuser von Lakoma mit ihren Obstgärten, Pferdeweiden und der ganzen ungezähmten Idylle stehen, ein 16 Quadratkilometer großes Loch sein. Riesig, 50 Meter tief, dort unten liegt die Kohle. Einmal geflutet, wird daraus ein „Ostsee“. Nach dem Willen der Braunkohlenlobby soll Lakoma nun ein paar Jahre später darin versinken.
Dabei hat es eine Zeit lang gut ausgesehen. Nach der Wende schien es, Lakoma käme davon. Ein Glück. Nicht nur des Dorfes wegen, sondern wegen der ungefähr 300 Hektar großen Lakomaer Teichlandschaft, die daran grenzt. Zur Karpfenzucht war sie vor 200 Jahren angelegt worden. Mittlerweile allerdings hat die Natur sich diese Kulturlandschaft zurückerobert. Die größte europäische Population der vom Aussterben bedrohten Rotbauchunken hat sich in den Gewässern und Erlenbrüchen angesiedelt. Dazu seltene Schilfrohrsänger, Rohrdommeln, Fischotter. Hundert bedrohte Arten. Darunter ein streng geschützter Käfer. „Eremit“ heißt er.
Anfang der 90er-Jahre wurden noch Landschaftspläne erstellt, die die Teiche schonten. Weil alles offen war, ließ die Lausitzer Braunkohlen AG den „Lacoma-Verein“ die leer stehenden Häuser des Dorfes zwischennutzen. Urbane Abenteurer, Künstler, Idealistinnen waren begeistert von der wilden Großzügigkeit des Ortes. Sie richteten sich ein in einem Interimsalltag, anfänglich ohne fließendes Wasser und Strom. Jeder verwirklicht hier seine Träume, so gut er kann. René Schuster etwa. Er ist Radiomoderator für sorbische Jugendsendungen. Oder Ralf Röhr. Eigentlich wollte er Architekt werden, bis er auf Reisen entdeckte, dass einer gleichzeitig entwerfen und bauen kann. Heute steht sein eigenhändig errichtetes sorbisches Holzhaus im Ort.
Eine Kulturscheune haben sich die Lakomaer auch eingerichtet. Seit 1993 im Braunkohlenplan Cottbus-Nord entschieden wurde, dass die Teiche und das Dorf doch wegsollen, wird von dort aus der Protest organisiert. „Zu einzigartig ist die Natur“, sagt Schuster.
Die Kulturscheune steht da, wo Vattenfall noch dieses Jahr eine Schneise durchs Dorf schlagen will. Am 30. September laufen die Nutzungsverträge für sie und die meisten der verbliebenen Häuser aus. Nach Auskunft eines Pressesprechers des Konzerns soll sukzessive abgerissen werden, wegen der Vorbereitungsarbeiten für die Entwässerung. Eine landschaftsschutzrechtliche Genehmigung dafür aber steht, nach Informationen der Lakomaer, noch aus. „Die Umweltverträglichkeit ist für jeden Energieträger zu prüfen“, beschwichtigt der Pressesprecher. „Daran arbeiten wir.“ Vattenfall will den Kahlschlag mit „Ausgleichsmaßnahmen“ regeln. Wie aber wird Unken begreiflich gemacht, dass sie umziehen sollen?
Die Lakomaer wissen, worum es geht: Sie sollen aus dem Dorf verschwinden. Als Störenfriede erinnern sie mit einem Dörferfriedhof an die abgebaggerten sorbischen Gemeinden. Sie tragen die Besonderheit der Landschaft an die Öffentlichkeit und führen durch das Teichgebiet. Sie berichten, dass das Planfeststellungsverfahren für die Beseitigung der Wasserflächen erst am Anfang steht. Und dass die Europäische Union ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland eingeleitet hat, weil die Teiche nicht als Schutzgebiet nach der Flora-Fauna-Habitat-Richtlinie ausgewiesen wurden. Europaabgeordnete bestätigen dies.
Widerstand liegt in der Luft. Protest. Dabei ist den Lakomaern klar, dass sich ihr Leben so oder so ändert. Gleich ob das Dorf abgerissen wird. Oder bleibt. Denn eine solche Freiheit, wie sie sie in Lakoma kennen lernten, entsteht nur an Orten, die offiziell nicht existieren, in Wirklichkeit aber doch da sind.