: berliner szenen Rauchen im Taxi
Wie fahren Westfalen?
Gott sei Dank darf ich rauchen. Die Mittfünfzigerin am Steuer vor mir hat, wie sie sagt, heute noch nicht viele Fahrgäste gehabt. Nun ist ihr Redebedürfnis groß. Mir macht es nichts, ich darf rauchen und sie hört keine hässliche Musik. Wir fahren durchs nächtliche Berlin. „Sie kommen nicht aus Berlin?“, stellt sie fragend fest. „Wo kommen sie her?“ – „Ostwestfalen“, sage ich kurz und trocken, damit man mir glaubt. Bekanntermaßen verfügen Ostwestfalen über wenige Wörter, Günter Piening, Wiglaf Droste und ich sind die einzigen Ausnahmen.
„Ah“, sagt sie, „das ist gut. Westfalen, das ist doch aufm Land, da können alle sicher gut Auto fahren.“ – „Nö“, meine ich. Ich habe Erfahrung. Ich bin selbst da gefahren. Doch die Taxifahrerin hört nicht, sie weiß nur: „Sehen Sie, sag ich ja. Wir Berliner können ja nur von Ampel zu Ampel, von Ecke zu Ecke.“
Wie jeder belesene Mensch, der es nicht zum Zyniker gebracht hat, will ich die Wahrheit kundtun. Drum sage ich: „Nein, das stimmt nicht. Nicht Westfalen. Die fahren wie besemmelt!“ – „Ja?“ fragt sie, nun das erste Mal aufmerksam. „Überall an den Straßen stehen Holzkreuze“, rufe ich erregt, nun als Westfale kaum noch glaubwürdig. „Na, das ist ja was“, murmelt sie, wir fahren weiter. „Das ist das Verteidigungsministerium“, sagt sie plötzlich, und dann, direkt im Anschluss: „Da will man hoffen, dass die jungen Leute wenigstens ihren Frieden mit Gott gemacht haben.“ Ich stutze. Junge Leute? Die Taxifahrerin spinnt weiter: „Ich meine, wenn einer seinen Frieden mit Gott gemacht hat, dann ist es nicht so schade, den holt Herr Jesus an der Pforte ab. Aber die, die keine Chance hatten, die müssen in die Hölle.“ Ich schweige. Gott sei Dank darf ich rauchen. JÖRG SUNDERMEIER