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Archiv-Artikel

Siegeszug zum Licht

Letzte Berufe mit Zukunft. Heute: Die Pfarrwitwenhausbewohnerin

Hier hat die Traditionin Überlebensgröße das sprichwörtliche Sagen

Während viele altehrwürdige Berufe wie der Seifenschmied oder der Goldsieder bereits seit langem aus dem Handelsregister verschwunden sind und selbst der Köhler sich nur noch in hochbezahlten Staatsstellungen halten kann, um an die nötige Kohle zu kommen; während die Handwerkskammern verzweifelt nach neuen Ausbildungsprofilen Ausschau halten und schon den Einzelmafiakaufmann als Lehrberuf in Erwägung ziehen, gibt es überraschende Hinweise auf eine Daseinsform weit jenseits auch nur der theoretischen Krisenanfälligkeit. So ist die Pfarrwitwenhausbewohnerin ein besonderes Beispiel für eine einzigartige und kompromisslose Zukunftsorientierung. Von einem neuen Markt zu sprechen, wäre dabei falsch; hier hat die Tradition in Überlebensgröße das sprichwörtliche Sagen.

Die Pfarrwitwe plant ihr Leben inmitten eines Umfelds überlegener Mortalität. Während unter männlichen Berufen statistisch keiner ein solch langes Leben verspricht wie der des evangelischen Pastors, weiß sich dieser dennoch im geschlechterübergreifenden Vergleich von einer Daseinsform weit übertroffen: nämlich von der gemeinen Pfarrwitwe. Und genau diese Differenz nutzt die Dame auf stille Weise aus.

Ihr ganzes Leben ist ein einziger Siegeszug zum Licht beziehungsweise zum Pfarrwitwenwohnhaus. Sie sieht in ihrer Jugend nur einmal entschlossen an sich hinunter und verwandelt daraufhin sofort den Vorzug ihrer weiblichen Geburt in Selbstbeschränkung bei der Wahl der Freier. Nie würde eine angehende Pfarrwitwe sich nickend, geschweige denn balzend in eine nichtige Berufsgruppe wie Aufsichtsräte oder Genforscher verirren; sie findet ihre paarungsbereiten Partner jederzeit leichter im Umfeld so genannter theologischer Fakultäten. Selbst das freimütige Geständnis, die Ehe nur um der Aussicht auf das zukünftige Wittum willen einzugehen, lässt die Pfarrwitwenproduzenten nicht vor der Einwilligung zurückschrecken. Da es schließlich nirgends Pfarrwitwerhäuser gibt, geben sie sich mit Platz zwei im Survivalranking gern bis zum Tod zufrieden.

Der Spitzenplatz gebührt wie selbstverständlich der Gattin, denn die Pfarrwitwe ist die geborene Überlebenskünstlerin. Weder in ihrem unauffälligen Larvenstadium noch während ihrer gemeindekompatiblen Verpuppungsform fällt dabei eine angehende Pfarrwitwe besonders auf oder gar aus dem gesellschaftlichen Rahmen. Unter Pseudonymen und Tarnnamen wie „Frau Pastor“ oder „Christina Rau“ macht sie einen durchaus lebendigen, zumindest aber prämorbiden Eindruck und weiß sich selbst im bischöflichen Eheambiente von der statistischen Verlässlichkeit ihres Lebensziels getragen. Die Pfarrwitwe ist nie in Eile. Im Gegenteil: Das Warten am Rande frisch aufgeworfener Gräber und der regelmäßige Spaziergang um das spätere Wohnanwesen bilden schon lange vor der offiziellen Rentenmitteilung ihren Lebensmittelpunkt.

Vergleichbare Verhaltensweisen sind sogar aus dem Tierreich nachgewiesen. So überlebt etwa die Gottesanbeterin in ihrer unaufgeregten Art ebenfalls über 99 Prozent ihrer potenziellen Nahrung, und auch die Schwarze Witwe bewohnt, wenn die Kinder erst einmal aus dem Haus und der Gatte unbekannt ausgesogen ist, ihr gemütliches Erdloch irgendwann allein.

Einsamkeit ist bei den hominiden Pfarrwitwen in ihren schmucken Heimen freilich selten. Dafür sorgt schon die verlockende Aussicht auf den Titel „Witwe aller Witwen“. Der wird dabei nicht im letalen Wettkampf untereinander ausgefochten. Viel lieber schmückt sich die vorgerückte Pfarrwitwe mit einer Art Trophäensammlung aus der Fortsetzung ihrer Anwartschaften. Namenskonglomerate wie Ranke-Heinemann und Holze-Stäbelein legen beredtes Zeugnis dieser beharrlich stillen Sammelleidenschaft ab.

Drückt man übrigens im Pfarrwitwenhaus in Herberhausen bei Göttingen einmal den Klingelknopf, meldet sich regelmäßig eine leicht brüchige, aber dennoch gut unterrichtete Stimme mit den Worten: „Wenn Sie zu Frau von Bora wollen, dann kommen Sie morgen an Allerheiligen wieder. Heute ist sie in Eisleben, am Grabe ihres Mannes.“

REINHARD UMBACH