Ansturm auf die Familienretter

Die Zahl der Erziehungsberatungen durch kommunale und freie Einrichtungen ist in den letzten zehn Jahren um 50 Prozent gestiegen. Experten begründen dies mit der Zunahme wirtschaftlicher und sozialer Probleme in der modernen Gesellschaft

VON ULLA JASPER

„Zur Erziehung eines Kindes braucht es ein ganzes Dorf“, sagt ein afrikanisches Sprichwort. Doch da diese soziale Struktur immer seltener werden, fühlen sich mehr und mehr Eltern bei der Erziehung ihrer Kinder überfordert. Sie suchen Hilfe bei den Familienberatungsstellen der Kommunen und der Wohlfahrtsverbände. Aktuelle Angaben des Landesamts für Statistik zeigen, dass die Zahl der Erziehungsberatungen von 180.000 im Jahr 1992 auf 290.000 in 2002 angestiegen ist.

Allein die Beratungsstellen der Caritas im Bistum Münster verzeichneten im letzten Jahr einen Anstieg um 12,7 Prozent im Vergleich zum Jahr 2000, so Barbara Kick-Förster, Geschäftsführerin der Arbeitsgemeinschaft Erzieherische Hilfen (AGE). Und: „Wir erwarten bis zum Jahr 2010 einen Anstieg um weitere 20 bis 30 Prozent.“ Als Grund nennt sie, dass die Überforderung der Familien immer größer werde: „Immer mehr Familien sind von erheblichen sozialen Problemen wie Arbeitslosigkeit und von einen Anstieg der Scheidungsraten betroffen.“ Die neuen Patchwork-Familien seien oft nicht in der Lage, diese Krisen aufzufangen, sagt Kick-Förster.

Vielfach habe aber auch die Sensibilität für soziale Probleme zugenommen. Dadurch sei einerseits die Hemmschwelle gesunken, Beratungsangebote in Anspruch zu nehmen. Andererseits spreche man aber gerade bei Kindern und Jugendlichen heute immer häufiger von so genannten verhaltensauffälligen Kindern, obwohl dies nicht immer zutreffe: „Alle sagen, dass Kinder heute schwieriger geworden seien, doch das lässt sich durch Studien nicht belegen“, so die Sozialarbeiterin. Die Wahrnehmung habe sich nur verändert. „Wenn Kinder früher aus dem Garten des Nachbarn ein paar Äpfel geklaut haben, dann hat man das mit einem Augenzwinkern zur Kenntnis genommen. Heute droht der Nachbar ihnen mit einer Anzeige.“

Caritas und andere Wohlfahrtsverbände versuchen deshalb, mit einem umfangreichen Beratungs- und Hilfsangebot vor allem die traditionelle Familie in diesem neuen gesellschaftlichen Umfeld zu stärken. Das Angebot reicht von Erziehungs- und Familienberatungsstellen über Mutter-Kind-Kuren und Heime für Kinder und Jugendliche bis zu Krisenstellen für Hilfe in akuten Notsituationen wie häuslicher Gewalt und sexuellem Missbrauch. Man arbeite in den Beratungsstellen außerdem eng mit anderen Beratungseinrichtungen wie der Schuldner- und Suchtberatung zusammen, weil viele der familiären Probleme damit zusammenhingen, so Kick-Förster.

Die Sozialarbeiterin betont, dass sich die Art der Familienberatung in den letzten Jahren deutlich verändert habe. Während sie lange Zeit geprägt gewesen sei von einem fürsorglich-bevormundenden Ansatz, versuche man heute eher als Ratgeber und Partner der Betroffenen die Probleme ganzheitlich zu analysieren und gemeinsam zu lösen: „Wir bieten heute eine breite Palette niedrigschwelliger Angebote an, die konkret im Sozialraum der Betroffenen verortet sind und direkt mit anderen Sozialeinrichtungen und der örtlichen Politik zusammenarbeiten.“ Man wolle damit raus aus dem sozialpädagogischen Elfenbeinturm.

Auch Matthias Schilling, Geschäftsführer der Dortmunder Arbeitsstelle Kinder- und Jugendstatistik, bestätigt den deutlichen Anstieg der Beratungszahlen, weist aber daraufhin, dass dies nicht allein durch eine Zunahme der gesellschaftlichen Probleme zu erklären sei: „Der Zuwachs ist auch dadurch zu erklären, dass Erziehungs- und Familienberatung immer mehr einen Dienstleistungscharakter bekommt. Es ist heute nicht mehr stigmatisiert, zu einer Beratung zu gehen.“

Problematisch sei, so Schilling, dass die finanzielle Ausstattung der Beratungsstellen mit der Zunahme der Beratungen nicht Schritt gehalten habe. Zwar hat laut Paragraph 27 des Kinder- und Jugendhilfegesetzes (KJHG) ein Erziehungsberechtigter Anspruch auf Erziehungshilfen, wenn dies für das Wohl des Kindes erforderlich ist, doch die knappe Ausstattung mit finanziellen Mitteln gefährde diese Garantie.