Dem Dämon des Theaters opfern

Der Kampf der weißen Kaninchen mit dem Regietheater: In „Eat my Wonderland“ (in den Sophiensælen) ist die Metamorphose nicht nur schauspielerische Übung, sondern auch Reflexion des eigenen Berufs

„Überall ist Wunderland“. Das ist das Motto, unter dem die Diplomstudenten für Schauspiel und Puppenspiel der „Ernst Busch“-Hochschule durch das Foyer des Hochzeitssaales in den Sophiensælen wuseln. Dabei begegnet dem mitten hineinversetzten Zuschauer so manch ein alter Bekannter aus den Kindertagen. So zum Beispiel gleich mehrere gehetzte, weiße Kaninchen und verrückte Hutmacher und eine schuh-fetischistische Riesenraupe. Lewis Carrol und seine Figuren aus dem wohl meistinterpretierten Kinderroman von 1865 sind in „Eat my Wonderland“ allgegenwärtig.

Nur Alice fehlt. Und natürlich der Sinn. Den kann allerdings selbst Anne Haug in der Rolle der „Regisseurin“ ihren „Sklaven“, den Schauspielern, nicht beibringen und kokst sich stattdessen deprimiert an der Bar zu. Sarkastisch nimmt die echte Regisseurin France-Elena Damian das Klischee des Regietheaters in solchen Szenen auf, das man am Ende des Stücks nach knapp eineinhalb Stunden Paradoxie und Wahnsinn durch eine aufgemalte „fuck regietheater“-Tür verlassen kann.

Der Clou des Stückes ist der verschlossene Zuschauerraum am Ende des Foyers. Da der „Regieassistent“ (Felix Müller) vor lauter anfallenden Aufgaben nämlich in der ersten Szene namens „Verspätung der Vorstellung“ keine Zeit mehr hat, das Publikum der Größe nach zu ordnen – in diesem Falle ohne Hilfe von ominösen Pilzen –, bleibt er erst mal geschlossen und man ist gegen Ende des Stückes erstaunt, als sich die Pforten zum Wunderland plötzlich tatsächlich öffnen. Darin schwebt die Herzkönigin (Sasha Matteucci) in einem betörenden Kostüm auf Einkaufswagenrädern über die Szenerie, während den Zuschauern „anima eingehaucht“ wird und ein Croquet-Spiel der besonderen Art und Weise stattfindet. Köpfe müssen dabei zum Glück allerdings nicht rollen. Die rollten dafür bereits zuvor, als in einer bemerkenswert ernsten und düsteren Szene zwischen Peter Marty und Ivana Sajevic Lewis Carrols als Pädophiler angeschwärzt wird, um auch diese Lesart des britischen Schriftstellers und Fotografen „kleiner Mädchen“ nicht zu unterschlagen.

Die Schauspieler schlüpfen in die unterschiedlichsten Rollen, sind gleichzeitig sie selbst, borgen ihre Lebendigkeit bauschigen Federhandpuppen und extravaganten Figuren. „Der Trommler“, gespielt von Recardo Koppe, ist sogar schon so oft umbesetzt worden, dass ihm auf die Frage „Wer bin ich?“ nur noch die Folgefrage „Und wenn ja, wie viele?“ bleibt. Ein Zitat des französischen Poststrukturalisten Roland Barthes haben sich die jungen Spieler herausfordernd an die Wand geschrieben: „Der Schauspieler liefert sich dem Dämon des Theaters aus, er opfert sich“, und die sieben Darsteller versuchen, dieser Behauptung gerecht zu werden. Dabei dekonstruieren sie jedoch sogleich ihr eigenes Tun, halten die Töne bewusst simpel, singen falsch und experimentieren mit der Sprache. Vieles wirkt dadurch geradezu dadaistisch und dabei dennoch – oder gerade deswegen – amüsant.

Der naiv-psychodelische Charme der Erzählung des kleinen Mädchens, das hinter einem Kaninchenbau eine ganze Welt voller paradoxer Unwahrheiten entdeckt, die die Absurdität unserer eigenen Welt widerspiegeln, wird in „Eat my Wonderland“ aufgenommen und auf die Welt des Schauspiels übertragen. Als Zuschauer fühlt man sich dabei mitunter überspielt – trotz ungezwungenem Mitmachtheater –, muss aber letztendlich Barthes dennoch zustimmen, dass einem „so offenkundigen Opfer“ nicht zu widerstehen ist und es einfach „mitreißt“.

DANIELA SALETH

„Eat my Wonderland“, 10. bis 15. März, 20 Uhr, im Hochzeitssaal der Sophiensæle