: Malmö-Rimini
5. Preis: Die Entdeckung der Sonnencreme
von ERMINIA VICCARO
1967 war ich zehn, lebte in einer norditalienischen Großstadt und hatte ständig Schnupfen. Deshalb fuhren meine Eltern mit mir ans Meer, in ein Pensiönchen namens Irene. Mein erster Urlaub fing spätnachmittags in Miramare di Rimini an. Es war warm, die Straßen waren voller Menschen, die sich treiben ließen oder riesige Eispokale aßen.
Es war schon zu spät, um das Meer zu sehen, ich konnte es nur riechen, hören und den dunklen Umriss des langen Strandes erkennen, mit den zusammengefalteten Sonnenschirmen. Also sind wir wieder ins Licht getreten, wo ein Mann Kokosstückchen verkaufte, hübsch nach Größe geordnet, eingebettet in zerstoßenem Eis. Vater kaufte mir eins von den kleinsten und meine Kinderseele war glücklich.
Am Strand spielte ich richtige Abenteuer, Umkleidekabinen aufmachen, um zu sehen, was die Leute für Sachen hatten, Sand in ihre Schuhe kippen … Ich hatte mich mit drei Geschwistern aus Schweden angefreundet, sie sprachen schwedisch, ich sprach italienisch und wir verstanden uns wunderbar und verbrachten die Tage zusammen.
Sie waren hellblond, mit lustig-blauen Augen, sie wurden schnell rot, deswegen cremten sie sich ununterbrochen ein. Sie machten es gründlich, sogar die Ohrmuscheln, sie berührten sich langsam, jedes Stückchen ihrer glatten Haut wie liebkosend, das hatte ich noch nie bei mir selbst getan.
Es war schön, wenn meine Mutter mir die Sonnencreme auf dem Körper verteilte, das aber war noch viel besser. Ich wurde mutig und schlug ihnen ein neues Spiel vor: Wer cremt am allergründlichsten ein? Köstlich! Ich liebte es, ihre nackte Haut anfassen zu dürfen, sie sogar zu streicheln, fast überall. Ein fremdes Knie war schmerzhaft erregend und eine fremde Brust einfach unbeschreiblich.
Sie kamen aus Malmö, ich fanatisierte mich bis in ihre Wohnungen hinein. Ich stellte mir vor, wir würden in Malmö zusammen aufwachen: Was essen dort Kinder zum Frühstück? Heiße Milch mit Grissini? Lernen sie in der Schule alles auf Schwedisch? Wenn ich mit ihnen in Malmö lebte, würde ich irgendwann all das Schwedische begreifen, das uns umgab. Dann wäre ich das Kind mit schwarzen Locken, das alle bewundern und schön finden, genau wie ich die drei fand, so fremd, so wundervoll.
Eines Morgens kamen sie zum Strand und erklärten mir, dass sie am nächsten Tag in der Früh abreisen. Ich war verzweifelt: Ich hatte sie kennen gelernt, ich hatte mich mit ihnen angefreundet! Nun mischten sich die Eltern ein und beschlossen, dass sie wegfahren mussten, und ich konnte nichts dagegen tun.
Wir hätten die letzte Nacht gemeinsam verbringen können, stundenlang flippern, Eis und Kokosstückchen essen und bis zum Sonnenaufgang auf dem leeren, dunklen, kilometerlangen Strand uns alle drei gegenseitig eincremen können. Zum letzten Mal, so richtig ausgiebig, für all unsere Zukunftsjahre eincremen. Wenn wir doch Waisenkinder gewesen wären.
Alles, was wir tun durften, war, ein Tretbötchen zu mieten und hinaus aufs Meer zu fahren, weit, bis man nicht mehr stehen konnte, Richtung Jugoslawien. Unter uns wurde das Wasser immer dunkler. Ich konnte nicht schwimmen, also tat ich ganz mutig, ich ließ die Füße ins Wasser baumeln und hielt mich dabei unauffällig am nassen, rutschigen Sitz fest. Ich ahnte, sie hatten vor, im offenen Meer zu schwimmen. Sie zogen ihre Badehosen aus und sprangen ins Wasser. Ich konnte ihnen nur nachstarren und gleichzeitig versuchen, das Gleichgewicht auf dem plötzlich wackelnden Bötchen zu halten. Alles war so schnell gegangen, aber ich wusste, dass sie vollkommen nackt waren, weil drei Badehosen ohne Inhalt auf dem Sitz lagen.
Sie riefen nach mir, sie wollten mich bei sich im Wasser haben, sie wollten mit mir spielen. Sie lachten, sie kitzelten meine Beine und gaben dem Boot kleine Stöße, um mich noch wackeliger zu machen … wir würden uns nie wiedersehen! Es tat mir so weh.
Ich musste unbedingt schwimmen lernen! Und irgendwann würde auch ich nackt, ohne Angst, unterzugehen, mit anderen geliebten Nackten im Wasser spielen.
Fotohinweis: Erminia Viccaro ist 1957 inTurin geboren. Seit 26 Jahren lebt sie in Deutschland. Ihre Leidenschaft: Schreiben und Lesen