Die Letten kommen

Als letzter Beitrittskandidat stimmt Lettland über die EU-Mitgliedschaft ab. Die Skepsis ist größer als anderswo

STOCKHOLM taz ■ „Lettland wird mehrheitlich Ja sagen.“ Davon ist Aigar Freimanis von „Latvija Fakti“ überzeugt. Dieses Meinungsforschungsinstitut misst die EU-Stimmung in der Bevölkerung regelmäßig seit 1992. „Die ganzen Jahre über haben die Zahlen bei einem 40-zu-40-Niveau gelegen“, berichtet Freimanis. In diesem Jahr kletterten die Ja-Ziffern erst Richtung 60 Prozent, um im August wieder zu sinken. Eine 55- bis 60-prozentige Mehrheit erwarten die Demoskopen.

Nicht zufällig entschloss sich die Regierung in Riga, Lettlands EU-Referendum ans Ende der langen Kette von Volksabstimmungen in den Beitrittsländern zu legen. Der Sog der vorangegangenen Ja-Ergebnisse sollte die Unsicherheiten beseitigen. Der Widerstand gegen die EU ist in Lettland relativ stark, vor allem bei der älteren Generation und in der Landbevölkerung. 17 Prozent der 2,4 Millionen LettInnen haben ihr Auskommen in der Landwirtschaft. Viele produzieren aber nur für den eigenen Bedarf, so dass dieser Wirtschaftssektor nur 4 Prozent zum Bruttoinlandsprodukt beiträgt. „Das Nationalgefühl ist stark mit dem Bauerntum, der Fruchtbarkeit des eigenen Bodens verbunden“, berichtet Ainars Dimants, Chef des „Europäischen Integrationsbüros“ in Riga.

Es gibt Schätzungen, wonach bis zu zwei Drittel der selbstständigen Bauernhöfe verschwinden werden. Auch bei den überlebenden Landbetrieben herrscht EU-Skepsis, weil Brüssel den Beitrittsländern nur Landwirtschaftssubventionen zweiter Klasse einräumen will. Und es geht die Furcht um, dass kapitalstarke Landwirte aus Deutschland und anderen EU-Ländern Boden kaufen und mit modernen Lebensmittel- und Tierfabriken auch die letzten einheimischen Bauern verdrängen könnten. Dimants hofft, dass der EU-Beitritt längerfristig so viel neue Arbeitsplätze schafft, dass die voraussehbaren negativen Folgen für die Landwirtschaft ausgeglichen werden.

Doch auf dem Land ist man derweil schnell mit Parallelen zwischen der alten und der neuen Union zur Stelle: der Sowjetunion und der EU. Geschieht dies mit negativem Vorzeichen, kann man dem Vergleich aber durchaus auch Positives abgewinnen: Mehr als ein Jahrzehnt seit der Unabhängigkeit begegnet man in Lettland mittlerweile so etwas wie Ostalgie. Früher habe es wenigstens Arbeit und soziale Sicherheit für alle gegeben. Das versprechen sich Städter und Jugendliche nun von der EU. Die wird mit der Hoffnung auf Wirtschaftswachstum und mit den persönlichen Chancen auf einem offenen europäischen Arbeitsmarkt verknüpft.

Lettland wird nach seinem Beitritt das ärmste EU-Land sein. Doch die lettische Wirtschaft ist durchaus dynamisch. In den letzten fünf Jahren ist das Durchschnittseinkommen der Bevölkerung um 57 Prozent gewachsen. Doch profitiert hiervon hat vor allem die wachsende Ober- und Mittelschicht, und insgesamt liegt das Durchschnittseinkommen bei nur einem Drittel des EU-Niveaus. In der Hauptstadt Riga sind es immerhin 45 Prozent – dafür in den südöstlichen Landesteilen gerade 10–12 Prozent. REINHARD WOLFF