: Demokratisch ein Gewinn
Die Bürgerversicherung ist kein Allheilmittel. Aber sie würde das Gesundheitssystem gerechter machen. Sie könnte eine Zweiklassenmedizin à la Angela Merkel verhindern
An diesem Wochenende wird sich die SPD-Spitze entscheiden, ob sie zur Abwechslung auch die besser Betuchten der Gesellschaft erschrecken möchte. Ein Bekenntnis zur Bürgerversicherung ist zwar noch lange kein Gesetz, aber ein Signal. Es dabei ist fast egal, ob die Bundesregierung in dieser Legislaturperiode auch nur einen Bruchteil des Riesenplans zur Finanzierung des Gesundheitswesens stemmt.
Wenn der Vorstand der SPD sich an diesem Sonntag die Pläne der SPD-Arbeitsgruppe zur Bürgerversicherung zu Eigen machte, wäre das ein kleiner Schritt für das Gesundheitssystem und ein großer Schritt für die SPD. Es wäre das erste Signal seit langer Zeit, dass unter Rot-Grün nicht bloß die Wirtschaft gehätschelt wird.
Es ist ein großer Fehler, die Symbolik in der Debatte um die Bürgerversicherung und ihr Gegenmodell, die Kopfpauschale, zu unterschätzen. Denn in dieser Auseinandersetzung geht es um viele Fragen, die mit großem aufklärerischem und demokratischem Gewinn diskutiert werden können. Etwa: Wie groß ist die Solidarität in der Bevölkerung überhaupt noch, die durch die Sozialversicherungen organisiert werden soll? Warum sollte es keine Reform der Finanzierungsseite geben, ohne gleichzeitig die Ausgabenseite umzukrempeln? Warum also müssen etwa die Kassenärztlichen Vereinigungen entmachtet werden?
Natürlich aber wäre alle Symbolik wertlos ohne die Möglichkeit der Umsetzung. Längst also haben sich die Experten in Politik, Publizistik und Wissenschaft auf die Fragen der Machbarkeit gestürzt. Jüngstes Produkt ist der Vorschlag der SPD-Arbeitsgruppe, zwar die Kapitalerträge für eine Bürgerversicherung heranzuziehen – aber nicht über Kassenbeiträge, sondern über eine Extrasteuer.
Damit rutscht die Bürgerversicherung nun verblüffend nah an die CDU-Kopfpauschale heran, bei der ein Ausgleich zwischen Reich und Arm ja auch aus Steuern finanziert werden soll. Doch: Diese Parallele zwischen den beiden Lagern lässt den entscheidenden Unterschied zwischen Bürgerversicherung und Kopfpauschale à la CDU nur noch deutlicher hervortreten: Die Bürgerversicherer wollen die Zweiklassenmedizin von privat Versicherten hier, gesetzlich Versicherten dort abschaffen. Die CDU will sie erhalten. Letztlich ist dies der Knackpunkt für einen gerechten, effizienten Umbau des Gesundheitssystems.
Entscheidend ist: Wer zahlt mit welchem Geld für wessen Gesundheit? Mit einem klaren Wort des SPD-Vorstands wäre nun diese Debatte erneut und grundsätzlich eröffnet. Die ganze Gesundheitspolitik leidet derzeit darunter, dass die Experten sich in Zins- und Zinseszinsdiskussionen verhakeln. Derweil machen sich die Versicherten Sorgen, ob der Beinbruch morgen noch von einem richtigen Arzt geschient wird oder nicht.
Wenn also gesetzlich Versicherte bald erfahren würden, dass privat Versicherte im Wartezimmer nicht mehr an ihnen vorbeisegeln und die Zeit vom Doktor okkupieren sollen, werden sie auch wieder gern auf das Thema Gesundheit und Gerechtigkeit einsteigen.
Das ist mehr, als die Besserwisserei derer glauben lässt, die schon seit Monaten mit hochgezogenen Augenbrauen darauf hinweisen, dass die Bürgerversicherung „kein Allheilmittel“ sei und es auf die Machbarbarkeit ankomme. Nichts ist ein Allheilmittel, und Machbarkeit ist immer ein Kriterium. Aber es gibt einen großen Unterschied zwischen der Bürgerversicherung und den anderen Projekten, zu denen die SPD schon Lippenbekenntnisse abgelegt hat, um sie dann – wie die Ausbildungsumlage – still zu beerdigen. Eine Bürgerversicherung beträfe ausnahmslos alle. Deshalb kann sie nicht so leicht von einer einzelnen Lobby ausgebremst werden – es sei denn, die Regierung übernähme das selbst.
Manche mokieren sich darüber, dass die Bürgerversichererer ihr Projekt wie eine Monstranz mit der geweihten Hostie namens „soziale Gerechtigkeit“ vor sich her tragen. Die Schnellmerker der Wirtschaftspresse und Talkrunden weisen mit einem besonderen Hohn darauf hin, dass der soziale Wunderglaube den Blick auf die wirtschaftlichen und politischen Realitäten verstelle. Doch aus dieser Haltung spricht meist bloß der Affekt gegen alles, was die ineffiziente Privilegienwirtschaft im Gesundheitswesen in Frage stellt.
Vermutlich sollte man sich gar nicht darüber wundern, dass die wirtschaftsnahen Kommentatoren statt über die Zukunft des öffentlichen Gesundheitssystems ausschließlich über die Lohnnebenkosten sprechen. Schließlich sind sie nahezu ausnahmslos privat versichert. Sie identifizieren sich nicht mit dem allgemeinen Gesundheitssystem und seinen Tücken. Sie kennen es gar nicht. Weil sie aber alle etwas von Lohnsenkung verstehen, reden sie lieber darüber – und also über die Kopfpauschale.
Die Vertreter der Kopfpauschale wollen, dass die Bruttolöhne um die Krankenkassenbeiträge – derzeit 14 Prozent – entlastet werden. Die Arbeitnehmer verlören ja kein Geld, weil sie das Geld ausbezahlt bekämen, um davon ihre Pauschale zu bezahlen, heißt es. Dies aber gälte bestenfalls für den Tag X, an dem umgestellt wird. Schon nach kurzer Zeit jedoch würde die Pauschale teurer. Der Lohn dagegen wird mit Sicherheit nicht mit steigen. Im Gegenteil, denn schon seit zwanzig Jahren sinken die Einkommen effektiv. Bleibt unterm Strich: eine saftige Lohnkürzung.
Dass sich damit ein paar Arbeitsplätze finanzieren lassen, ist durchaus möglich. Doch dann wäre es hilfreich, die Vertreter der Kopfpauschale würden deutlicher sagen, dass ihnen ein effizientes und gerechtes Gesundheitssystem absolut gleichgültig ist. Sondern dass sie die anstehende und notwendige Reform für eine willkommene und geeignete Gelegenheit halten, um die Löhne zu senken.
Die Bürgerversicherer sehen in Sachen Lohnnebenkosten natürlich erst einmal blass aus. Dass der Kassenbeitrag in zwei bis drei Jahrzehnten um 2 Prozent sinken könnte – nun ja. All solche Kalkulationen hängen davon ab, in welchen Schritten die Bürgerversicherung einzuführen ist – und man darf unterstellen: Bestenfalls Trippelschritte werden möglich sein. Die rot-grünen Bürgerversicherer können den Arbeitgebern bloß anbieten, ihren Anteil einzufrieren. Dann muss die Kostensteigerung im Gesundheitswesen von den Arbeitnehmern wie bei der Kopfpauschale allein bezahlt werden. Wenn die Arbeitgeber jedoch stattdessen 14 Prozent Lohnkürzung haben können, wissen die schon, was sie lieber wollen.
Die Vertreter der Bürgerversicherung haben deshalb keine Chance gegen die Vertreter der Kopfpauschale, wenn sie sich auf das Argument Lohnnebenkosten einlassen – auch wenn viele Experten es für weit überbewertet halten. Sie können nur mit ihrem größten Pfund wuchern: dass sie den genuinen, ehrlicheren Entwurf anbieten, die gut gestellten Bevölkerungsgruppen in ein modernes, allgemeines Gesundheitssystem zu holen.
ULRIKE WINKELMANN