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Archiv-Artikel

Die unerwünschte Familie

In ihrer Heimat Bosnien-Herzegowina sah Milica Ristic Menschen sterben. Vor neun Jahren flüchtete sie mit ihrer Familie. Berlin war ihr Zuhause – bis die Ausländerbehörde das Gegenteil beschloss

VON FELIX WADEWITZ

Sie hat das Gesicht einer jungen Frau. Und die Mimik einer Greisin. Milica Ristic ist 38 Jahre alt. Sie berichtet zögernd, in Bruchstücken. Wie ein Kind, das sich vor den Schlägen des strengen Vaters fürchtet. Sie vertraut dem Gast nicht. Sie vertraut fast niemandem – nicht mehr.

Sie erzählt vom 15. Mai 1995. Es ist Krieg in Bosnien-Herzegowina. Milica Ristic ist auf dem Weg nach Tuzla. Die 29-Jährige will in der Stadt einen Pass beantragen, um endlich zu flüchten. Flüchten aus einem Dorf, in dem ihre beiden Töchter, Sanja und Tanja, nicht leben können. Milica ist Katholikin, ihr Mann Zoran Serbe. Das Dorf ist muslimisch. Bis zum Krieg sind sie in Ruhe gelassen worden, erzählt Milica. Dann wurde es schlimm. Die Steinwürfe verfehlten das Haus. Die Schüsse der Nachbarn nicht.

Kaum hat Milica Tuzla erreicht, beginnt der Angriff. Granaten schlagen ein. Die Altstadt steht in Flammen. 71 Menschen werden getötet. Milica hört Schreie, sieht die Sterbenden.

Berlin, im August 2004. Milica Ristic nimmt Tabletten, um den Tag zu überstehen. Die 38-Jährige leidet. Posttraumatische Störung nennen das die Ärzte. Sie hat Angst. Sie kann nicht schlafen. Sie ist erschöpft – immer. Sie findet keine Ruhe – nie. Vor drei Wochen wurde Milicas Dosis erhöht. An jenem Tag hat die Berliner Ausländerbehörde ihren Mann Zoran und ihre Älteste Sanja abgeschoben. Neun Jahre kämpften die Ristic in Berlin um ein normales Leben. Milicas Mann hatte nicht nur einen Job als Bauarbeiter gefunden, sondern auch die begehrte Arbeitserlaubnis bekommen. Die Familie hatte sich eingerichtet. Berlin war ihr Zuhause. Sanja war sieben Jahre alt, als Milica mit ihr und der damals dreijährigen Tanja flüchtete. Die UNO hatte einen Konvoi organisiert, der katholische Frauen und Kinder aus dem Land brachte. Ehemann und Vater Zoran kam ein Jahr später nach Berlin. Heute ist Sanja 16. Am Montag, einen Tag vor ihrer Abschiebung, war sie zum ersten Mal in ihrer neuen Schule. Dort wollte sie das Fachabitur machen. Dann kam der Dienstag. An diesem Tag gingen die Eltern und Sanja zur Ausländerbehörde. Die Duldung sollte verlängert werden. Reine Routine, glaubten sie. Dann klickten die Handschellen. Die drei wurden in eine Zelle in der Abschiebehaftanstalt nach Köpenick gebracht. Eine Polizeistreife holte Tanja, die Jüngste, aus der Schule. Die Ausländerbehörde versicherte dem Anwalt der Familie, dass die Familie in der folgenden Nacht nicht abgeschoben wird.

Wenige Stunden später, um drei Uhr nachts, werden die Ristic geweckt. Die Polizei fährt sie nach Tempelhof. Milica bricht zum zweiten Mal zusammen. Die Beamten flößen ihr Medikamente ein. Bis heute weiß die 38-Jährige nicht, was ihr gegeben wurde. Am Morgen werden Zoran und Sanja ausgeflogen. Die Behörde begründet das Auseinanderreißen so: Die 13-jährige Tanja darf mit ihrer Mutter bleiben, bis der Asylantrag der Minderjährigen bearbeitet ist.

Milica erzählt von den vergangenen Wochen. Von den Tagen in einem Asylbewerberheim, in das beide trotz der vorhandenen Wohnung mussten. Von den Medien, die es zum Skandal erhoben, dass Tanja aus der Schule abgeholt wurde, und vergaßen, dass die Familie auseinander gerissen wurde. Von den Freundinnen Michaela und Ljiljana, die sie zu den Ämtern und Behörden begleiten und ohne die sie längst aufgegeben hätte. Von Ulrich Brinsa, dem CDU-Abgeordneten, der das Verhalten der Ausländerbehörde als „inhuman“ tadelte. Brinsa besuchte die Ristic sogar in ihrer Wohnung – und brachte ein Kamerateam mit. Milica erzählt von Rassismus, der ihr in der Ausländerbehörde entgegenschlägt. Nicht von allen Mitarbeitern, aber von zu vielen. Und dann erzählt Milica von den Telefonaten mit ihrem Mann und ihrer älteren Tochter, und weint.

Zoran und Sanja sind bei Milicas Eltern untergekommen. „Sanja weint nur noch“, berichtet ihr Vater am Telefon. „Wir haben Angst, dass sie sich etwas antut“, sagt Milica.

Wann sie ihre Tochter wiedersieht, das weiß Milica nicht.