: Opfer verhöhnt, Täter frei
aus Delhi BERNARD IMHASLY
In der Kleidersprache der Straßengangs im westindischen Bundesstaat Gujarat bedeutet das Hochstellen des Hemdkragens: „Nimm dich in Acht – gleich geht's los!“ Diese Drohgebärde wird zurzeit weniger auf der Straße als in Gujarats Gerichtssälen gezeigt. In einigen Distrikten werden die Klagen von hunderten Muslimen verhandelt, deren Familien im März vergangenen Jahres Opfer einer Orgie von Mord, Misshandlung und sexueller Gewalt wurden.
Auslöser war ein Brandanschlag auf einen Zug mit Hindu-Pilgern, die im Februar 2002 den Tempel von Ayohdya im nordindischen Bundesstaat Uttar Pradesh besucht hatten. 59 Menschen starben damals. Anschließend kam es zu den antiislamischen Pogromen mit 2.200 Toten. Wer jetzt bei den Prozessen Ernüchterung, Scham und Strafe erwartet hat, sieht sich getäuscht. Die Zuschauerbänke im Gericht sind besetzt mit Anhängern der radikalen Hindu-Parteien, die viele der Ausschreitungen zu verantworten haben.
Drohung im Gerichtssaal
In der Kleidersprache der Schläger vom März 2002 – safrangelbe Stirnbänder, ein rotes Kainszeichen auf der Stirn – beschimpfen sie die Zeugen, die allein in einem engen Zeugenstand stehen, drohen ihnen mit Gesten und Verwünschungen. Wenn es eine Frau ist, wird sie mit obszönen Bemerkungen über ihr Aussehen und ihre sexuelle Verfügbarkeit verhöhnt.
Nicht nur das Publikum findet an diesem Spießrutenlauf Gefallen. Beobachter von regierungsunabhängigen Organisationen berichten, dass sie keinen Fall kennen, in denen die Staatsanwaltschaft – als Vertreterin der Opfer – das Gericht um Maßregelung des Publikums gebeten hätte. Und kein Richter habe drohende oder höhnende Zuschauer des Saals verwiesen. Im Gegenteil, Staat und Justiz scheinen es darauf angelegt zu haben, das Anliegen der Kläger zu erschweren.
Die Statistik zeigt, dass Staat und Justiz alles tun, um die Opfern bloßzustellen. Von den 964 Gerichtsfällen über die rund 2.200 Morde und zehntausenden Vergewaltigungen sind bisher rund 500 abgeschlossen – ohne eine einzige Verurteilung. Das ist kaum verwunderlich: Die Berichte der Polizei sind oft so widersprüchlich abgefasst, dass es der Verteidigung leicht fällt, sie zurückzuweisen. Die meisten Sonderstaatsanwälte sind Juristen, die der regierenden hindunationalistischen Partei BJP nahe stehen oder gar führende Mitglieder radikaler Gruppen des Vishwa Hindu Parishad (VHP) und des Bajrang Dal (BD) sind. Aus deren Reihen wurden die Schlägertrupps rekrutiert, die damals auf ihre muslimischen Mitbürger losgegangen waren.
Auch die Richter stellen prozedurale Hürden auf. Die Rechtsaktivistin Navaz Kotwal von der Commonwealth Human Rights Initiative berichtet von einer Frau namens Medina aus dem Dorf Eral. Deren sieben Familienangehörige, darunter ein 18 Monate altes Kind, waren zu Tode geprügelt worden, nachdem die Frauen der Reihe nach vergewaltigt und ihnen die Brüste abgeschnitten worden waren. Der Richter hatte verfügt, dass sich bei jedem Termin im 70 Kilometer entfernten Gerichtshof alle 32 Zeugen gleichzeitig präsentieren müssten – um dann einzeln verhört zu werden. Nach einem Jahr und drei Terminen sind bis heute vier Zeuginnen angehört worden. Jede war anzüglichen Zwischenrufen ausgesetzt, besonders wenn sie vom Staatsanwalt mit den traumatischen Details der sexuellen Gewalt konfrontiert wurde.
Vor dem Gerichtsgebäude geht es den Zeugen oft nicht besser. Die Witwe des Abgeordneten Ehsan Jafri, der mit 98 Mitgliedern eines Wohnkomplexes in Ahmedabad ermordet worden war, wurde von VHP-Mitgliedern zusammengeschlagen, als sie das Gericht verließ. Ihr Auto wurde zerstört, die anwesenden Polizisten schauten zu.
Die offizielle Opferzahl liegt bei etwa 1.000 Menschen. Die Diskrepanz zu der in allen 964 Gerichtsfällen aufgelisteten Zahl von 2.200 Ermordeten erklärt sich aus der Praxis der Behörden, viele Opfer als „vermisst“ zu führen. Die Polizei habe seinerzeit nichts gegen die Zerstörung von Beweismaterial wie Verbrennen von Leichen unternommen, sagt Kotwal. So konnten viele Angehörige abgehalten werden, überhaupt Klagen einzureichen mit dem Vorwand, dass diese ohne Beweise sowieso keine Chance hätten. Zudem kommen die Familien von „Vermissten“ sieben Jahre lang nicht in den Genuss der versprochenen Schmerzensgelder. Dies hat dazu geführt, dass mehrere tausend Familien noch heute in Lagern leben, die inzwischen von Wohlfahrtsorganisationen geführt werden. Die Regierung hat alle ihre Lager geschlossen unter dem orwellschen Vorwand, es sei „sozial ungesund für die Opfer, lange Zeit in Camps zu leben“.
Die meisten Muslime sind in ihren Dörfern nicht mehr willkommen. Sie riskieren bei einer Rückkehr sozialen und ökonomischen Boykott. Wer Klage gegen Hindu-Nachbarn wegen Mordes und Gewalt erhoben hat, wird mit Mord bedroht – es sei denn, er oder sie lässt die Klagen fallen. Gegen besonders hartnäckige Kläger hat die Polizei fingierte Klageschriften registrieren lassen und sie verhaftet. Im Gegensatz dazu bewegen sich die meisten Hindu-Angeklagten frei und unter den Augen der Polizei, die sie in ihren Akten als „unauffindbar“ führt.
Doch auch der Todesmut jener Frauen und Männer, die in einem feindlichen System für ihr Recht kämpfen, stößt irgendwann an Grenzen. Dies zeigte sich im „Best Bakery“-Fall in der Stadt Vadodara.
Freiwild per Dekret
14 Mitglieder einer Bäckerfamilie waren dort am 1. März von einem Hindu-Mob ermordet worden, nachdem Gujarats Regierungschef Narendra Modi zwei Tage zuvor in einer Fernsehansprache die muslimische Minderheit praktisch zu Freiwild erklärt hatte. 21 Männer waren von Augenzeugen schwer belastet worden. Doch im Prozess nahm eine Zeugin nach der anderen ihre eidesstattliche Erklärung zurück. Der Richter fand nichts dabei, dass 37 Zeugen umgefallen waren. Er schloss den Fall und ließ alle Angeklagten mangels Beweisen frei. Erst als die Zeugen unter dem Schutz von Menschenrechtsgruppen waren, wagten sie es, mit der Wahrheit herauszurücken. Sie waren von Mittelsmännern und lokalen Hindu-Politikern mit dem Tod bedroht worden, sollten sie an ihren Aussagen festhalten.
Es waren schließlich die Aussagen einer jungen Frau, Zaheera Shaikh, die das Land aus dem Schlaf der Gerechten riss. Sie sei standhaft geblieben bis zum Schluss, sagte sie später in Bombay, „doch als ich am 17. Mai den Gerichtssaal betrat und die drohende Menge vor mir sah ohne auch nur eine Schutzperson, fragte ich mich: Soll ich die Wahrheit sagen, oder soll ich meine Familie retten?“ Sie zog es vor, zu überleben.
Die landesweite Empörung über diesen Justizskandal bewog die Nationale Menschenrechtskommission, das Oberste Gericht zu ersuchen, die Prozesse neu aufzurollen, und zwar außerhalb Gujarats. Als der Anwalt des Bundesstaates am 12. September vor dem Obersten Gericht argumentierte, es sei nichts Besonderes, dass es bisher zu keiner einzigen Verurteilung gekommen sei, das sei bei früheren Unruhen auch so gewesen, donnerte ihm Chefrichter V. N. Khare entgegen: „Meinen Sie damit, dass die Brandstifter von Gujarat nicht bestraft werden sollen?“
Mühsam geflicktes Image
Es folgte eine Breitseite des Richters gegen die Regierung des Bundesstaats, womit er das schwer angeschlagene Image des indischen Rechtsstaats wieder etwas aufpolierte: „Ich habe kein Vertrauen mehr in die Anklagepraxis der Regierung von Gujarat. Wenn ihr die Schuldigen nicht überführen könnt, tretet zurück!“ Als der Anwalt einwarf, es handle sich immerhin um eine demokratisch gewählte Regierung, bekam er zurück: „Soll das etwa heißen, dass in einer Demokratie die Schuldigen nicht bestraft werden müssen?“
Die Äußerungen des Obersten Gerichts schlugen im ganzen Land wie eine Bombe ein. Wieder einmal ertönte der Ruf nach der Absetzung Modis, und die regierende BJP zog sich fürs Erste zurück, um den Schaden zu begrenzen, den ihr Paradepferd den muslimischen Bürgern – und dem Image des Landes – antut.
Die systematische Erniedrigung der Opfer eines der schwersten Pogrome in der Geschichte der Republik hat für viele der 135 Millionen Muslime des Landes das Vertrauen in den Rechtsstaat endgültig erschüttert. „Fühle ich mich noch als Bürgerin dieses Landes?“, fragt etwa die Übersetzerin Salima Tyabji, deren großbürgerliche Familie vor 50 Jahren bewusst Indien statt Pakistan als neue Heimat gewählt hatte. „Ehrlich gesagt: nein. Ich werde hier so sehr auf meine muslimische Identität reduziert, dass mir der Atem stockt. Ich fühle mich hier nicht mehr zu Hause.“
Andere Muslime aus der Mittelschicht haben bereits den nächsten Schritt getan – von der Hoffnungslosigkeit zur Gewalt. Die Verhaftungen nach den Bombenattentaten der letzten Monate in Bombay haben Ärzte, Ingenieure, Lehrer – unbescholten und im Ruf, gemäßigte Muslime zu sein – als Tatverdächtige hervorgebracht. Sie hatten sich, so zeigten die Verhöre, von Agenten aus dem benachbarten Ausland anwerben lassen, um für die Ereignisse in Gujarat Rache zu nehmen. Zu ihnen gesellten sich andere – ein Schneider aus Surat in Gujarat und ein Elektriker aus dem riesigen Pool von indischen Arbeitern im Mittleren Osten. Sie waren nach Bombay gezogen, um sich als Teil der neu gebildeten Gujerat Revenge Force bereitzuhalten. Innenminister Lal Krishna Advani verweist in internationalen Foren immer stolz darauf, dass unter den Al-Qaida-Mitgliedern kein einziger indischer Muslim zu finden sei – „ein Beweis für die Inklusivität und den Pluralismus der indischen Zivilisation“. Er muss seine Meinung wohl bald revidieren, wenn er die Hetzjagd seines Protegés Narendra Modi auf die Muslime weiter hinnimmt.