„Nach oben buckeln, nach unten treten“

Radfahrer und Politiker sind wesensverwandt. Was verbindet sie? Was trennt sie? Wie erkennt man in der Politik, wer ein „Hinterrad-Lutscher“ ist?

von RUDOLF SCHARPING

Wer die „Tour de France“ im Fernsehen verfolgt, denkt vielleicht spontan an den Bundestag: Nach oben buckeln sie, nach unten treten sie! Ist das die Gemeinsamkeit von Radsport und Politik? Es gibt in Deutschland und Europa ambitionierte Rad-Amateure, die Politiker sind. Nur: Mit der Mannschaft hapert’s, mit dem Mannschaftsgeist und einem gemeinsamen Ziel. Sonst gilt in der Politik wie in der Tour de France: Am Ende gewinnt immer der Amerikaner – auch weil er hervorragende europäische Kräfte in seiner Mannschaft einbaut.

Der Sattel des Rennrads fordert den ganzen Kerl. Fünf oder sechs Stunden im Sattel – so lange sitzt keiner am Stück im Bundestag. Trotzdem: Sitzfleisch wird gebraucht, auf dem Rad und in der Politik. Jeder Radprofi weiß: Er braucht auch Herz, Hirn und Lunge. Einige in der Politik ergänzen Sitzfleisch mit Leber und Kehlkopf, und das sehr ausdauernd. Übrigens ist das Geheimnis der Ausdauer: Man darf Etappen (Landtagswahlen) nicht mit dem ganzen Rennen (Bundestagswahlen) verwechseln. Allerdings: Wer alle Etappen verliert, verliert beim Rennen auch das gelbe Trikot. Politstars und Radstars sind große Individualisten. Aber beide haben nur Erfolg, wenn die Individualisten sich zur Mannschaft zusammenschweißen; wenn man sich gegenseitig respektiert: der Kapitän den Wasserträger – und der Wasserträger den Kapitän.

Das Geheimnis eines guten Kapitäns im Radsport: Er weiß, es muss jemand da sein, der ihm Windschatten gibt, er braucht jemanden, der ihm notfalls sein Rad zur Verfügung stellt. Es muss jemanden geben, der Wasser und Nahrung holt. Ein erfolgreicher Kapitän braucht Leute, die seine Kräfte schonen – für die entscheidenden Momente am Berg oder im Kampf gegen die Uhr. Wissen das die Politiker, vor allem die Alpha-Tiere? Es gibt eine große Ehrlichkeit der Radprofis: Sie machen aus ihrem Individualismus – und dem damit verbundenem Egoismus – kein Geheimnis.

In der Politik ist das eher verboten. Da wird oft genug das Team vorgespielt oder sogar ein Tandem. Die Klassiker: Merkel/Stoiber heute, früher war’s mal Lafontaine/Schröder. Richtig ist: Auf dem Rennrad passt ein Blatt Papier nicht zwischen Sattel und Hintern. Außerdem: Wer in der Politik ein Tandem weder fahren noch vortäuschen will, der ist schnell als Sonderling in der Mannschaft abgemalt: ehrlich vielleicht, aber ein Außenseiter. Im Radsport entsteht Image aus ehrlicher Leistung. In der Politik gilt zu oft Image als die größte Leistung! Sehen die Zuschauer und Fans eigentlich ein ehrliches Rennen?

Am Straßenrand bekommt man nur einen Ausschnitt der Tortur und Leidenschaft, der Anstrengung, der Taktik, des Zusammenspiels der Mannschaft mit. Die Fans wissen das, feiern kräftig, sind fröhlich – und fühlen sich mit den Gladiatoren der Straße verbunden. Aber den vollen Überblick über Rennverlauf und Ergebnis erlangt man erst durch die Medien. Das Ereignis des Rennens hat immer ein Ergebnis. Politisch reicht vielen oft das nächste Ereignis. Und bei jeder Rede, bei jedem Skandal, bei jedem Personalschacher bekommt man auch nur einen Ausschnitt des großen Machtspiels mit. Aber mancher glaubt: Durch Fernsehen und Zeitung habe ich den Überblick. Das stimmt leider nicht, denn die Intrigen und Mauscheleien sieht man nicht.

Beim Radrennen gibt es allerdings eine beneidenswerte Unverschämtheit. Bei der Tour de France schrie der „Wasserträger“ Udo Bölts seinem Superstar Jan Ullrich zu: „Quäl dich, du Sau!“ Der Kapitän folgt dem Rad des Kollegen. In der Politik würde dieser Ratschlag zum sofortigen Ausschluss führen. Hier quält man von oben nach unten. Eine Spezies praktiziert die radelnde Politik: Der „Hinterrad-Lutscher“. Seine Taktik: Er hängt sich in den Windschatten eines anderen – und versucht nicht aufzufallen, aber trotzdem von der Leistung der anderen zu profitieren.

Deshalb stellt sich erst bei harten Steigungen heraus, wer was leistet – und wer ein „Hinterrad-Lutscher“ ist. Deshalb erkennt man einen guten Mann immer erst in den Alpen oder den Pyrenäen – oder im Berliner Reformgebirge. Ohne Ausdauer gibt es keinen Sieg. Aber das stärkste Ego und die größte Leistung haben keinen Erfolg, wenn man sich nicht in die Mannschaft einbringt. Man versagt – oder zerstört eben diese Mannschaft.

Im Radrennen kennt jedes Teammitglied den Kurs, die Schwierigkeiten, seine Möglichkeiten – und die Taktik der Mannschaft. In der Politik kennt man den Wirrwarr. Den größten Irrtum begeht der, der versucht, Leistung zu kommandieren. Auf gut Deutsch: Wenn der Kapitän sagt: „Schuftet, ihr Schweine!“, dann macht er seine Mannschaft zu Galeeren-Sklaven. Fazit: Im Radsport und der Politik darf man Masse und Fett nie mit Klasse und Muskeln verwechseln.

Rudolf Scharping ist MdB, ehem. Verteidigungsminister und überzeugter PedaleurFOTOS: FRANK OSSENBRINK (4), LAURENCE CHAPERON, ROBERTO PFEIL/AP, AP, ARND WIEGMANN/REUTERS, JÖRG SARBACH/AP, BECKER + BREDEL/ACTION, PETER MEISSNER, DPA