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Archiv-Artikel

Ein Leben mit Opel

Wie ist es, wenn die gesamte Jugend von einem Autobauer geprägt wird? Der nostalgische Rückblick eines Rüsselsheimers

DER KLEINE KUHSTALL

Der kleine KuhstallOpel brummte. Viel Geld floss in die Kassen der Stadt – und wurde umgehend wieder ausgegeben. Der grenzenlosen Erneuerungswut der deutschen Sozialdemokratie in der südhessischen Provinz fiel dann in den Sechzigerjahren selbst der weltberühmte Kuhstall in der Ochsengasse zum Opfer, in dem Adam Opel seine erste Nähmaschine baute. Niedergemacht von Lokalpolitikern, die mit dem Geld von Opel den gesamten alten Ortskern „brandschatzten“.

VON KLAUS-PETER KLINGELSCHMITT

Wie tausende andere Rüsselsheimerinnen und Rüsselsheimer stand auch ich 1962 mit einem Fähnchen in den katholischen Opelfarben Weiß und Gelb auf dem frisch geteerten Trottoir der Frankfurter Straße und nahm die Parade der Oldtimer und neueren Wagen ab. Zusammen mit meinem bei Opel arbeitenden Vater, meinem bei Opel arbeitenden Opa, meinem bei Opel arbeitenden Patenonkel, meiner Mutter, meiner Oma und der Frau des Onkels und allen, auch bei Opel arbeitenden Nachbarn aus der Friedrich-Ebert-Siedlung und deren Frauen und Kindern.

Die Adam Opel AG feierte ihren 100. Geburtstag und ich war gerade zehn Jahre alt geworden. Das Werksorchester auf dem Podest vor dem Rathaus spielte Swing, respektive „Negermusik“ (Opa), schließlich gehörte Opel schon seit Ende der 20er-Jahre zum Weltkonzern General Motors (GM) mit Sitz in Detroit, USA.

Vorneweg im Autokorso fuhr der legendäre Doktorwagen von 1902, gefolgt vom grünen Cabrio Laubfrosch und dem Raketenauto RAK 2. Damit hatte der von meinem Opa als „Draufgänger“ titulierte, noch von Kaiser Wilhelm II. geadelte Georg von Opel – einer der Söhne des Hufschmiedes und Firmengründers Adam Opel – 1928 in Berlin und auch auf der heute längst zerborstenen, von Moosen und Farnen überwucherten Rennbahn von Opel im Rüsselsheimer Forst alle Geschwindigkeitsrekorde gebrochen. Danach rollten die chromblitzenden Flaggschiffe der Marke Opel an der jubelnden Menschenmenge vorbei, allesamt Symbole für das Wirtschaftswunder im Nachkriegsdeutschland – oder wenigstens für den bescheidenen Wohlstand, zu dem es Ende der 50er- und Anfang der 60er-Jahre auch die eigentlichen Automobilbauer in ihren Blaumännern gebracht hatten: der wunderbare, fast wie ein Amischlitten gestylte gediegene Kapitän, der hübsche Olympia mit seinen runden weiblichen Formen, der in seiner Klasse alle Verkaufsrekorde brechende Rekord P 1 mit den kühnen Heckflossen – und ganz zum Schluss das damals aktuellste Produkt, der kastenförmige A-Kadett mit Panoramablick. Eine Erfolgsstory auf vier Rädern und das einzige, auch in Deutschland produzierte Automobil, das es in Europa an Popularität mit dem Käfer von Volkswagen aufnehmen konnte. Der B-Kadett, der Verkaufsschlager von Opel in drei Neuauflagen mit nur minimalen Anpassungen an den Zeitgeschmack, war da noch nicht „geboren“.

„B-Kadett“ nennt sich heute eine Cover- und Trashrockformation aus Rüsselsheim. Motto: „Einsteigen, anschnallen, abheben!“ Und „Trash“ ist bei Opel ja vielleicht tatsächlich bald schon alles. Meine 77-jährige Mutter fährt zwar noch immer ihren Kadett der letzten Baureihe 1990 mit Stufenheck in einer nur bei einem Opel zu bestaunenden Lackfarbe, einer Art von Metallicblau mit Tendenz zum Silberigen.

Doch auch dieses, von zahlreichen Karambolagen auf dem Weg zur Rheumagymnastik leicht verbeulte Exemplar eines braven Kadetten, das mit seinen nur 85.000 Kilometern auf dem Tacho gerade erst problemlos über den TÜV kam, landet in naher Zukunft in der Schrottpresse. Die Abwrackprämie und die der Witwe eines Opelarbeiters selbst heute noch eingeräumten großzügigen Rabatte beim Neuwagenkauf animierten jetzt nämlich auch meine Mutter zur Bestellung eines kleinen Agila. Mein Bruder, der bei Opel als Ingenieur und Motorenentwickler arbeitet, erklärte ihr, dass dieses Fahrzeug mit seinem erhöhten Einstieg „das beste für bewegungsempfindliche ältere Menschen“ sei. Und zudem das preiswerteste aus der Opel-Flotte.

Dem Kadett aber, der in seiner spartanischen Ausstattung noch nicht einmal über eine Servolenkung verfügt, trauert meine Mutter schon längst nach, obgleich sie das Auto mit den permanenten Problemen in der Elektronik noch eine ganze Weile weiter fahren darf. Ihr neuer Wagen rollt wegen Lieferengpässen erst im August vom Band. „Der Kadett hat mir immer treue Dienste geleistet“, sagte sie gleich nach der Kaufvertragsunterzeichnung für das neue Auto direkt im Werk. Und dass doch unser Vater das Auto noch gekauft und auch gefahren habe.

Mein Vater hatte Anfang der 40er-Jahre bei Opel Betriebsschlosser gelernt, und arbeitete – nach kurzem Jungsoldateneinsatz als 17-Jähriger an der Westfront – nach dem Krieg im Presswerk als Kolonnenführer. Er starb 1991 mit nur 63 Jahren im Urlaub in Südtirol an einem Herzinfarkt. Beim Abendessen im Restaurant fiel „der Mann wie ein Baum“, so der Pfarrer bei der Trauerfeier auf dem Rüsselsheimer Waldfriedhof, einfach unter den Tisch. Den Vorruhestand hatte er nur vier Jahre lang genießen können.

Mit dem ersten Familienauto, einem himmelblauen B-Kadett, fuhren wir 1966 an den Gardasee. Ein Traum wurde wahr – ein Albtraum. Denn obwohl mein Vater doch Opels baute, hasste er das Autofahren! Zweimal war er – fehlerlos im Theoretischen – an der praktischen Fahrprüfung gescheitert. Beim dritten Anlauf bekam er den Lappen geschenkt. Aus Mitleid. Der stolze Mann, der zuvor den Bergarbeitern in Bochum ein Jahr lang gezeigt hatte, wie man anständige Autos baut, schwitzte auf der Fahrt in den Süden Blut und Wasser hinterm Steuer. Zurück fuhr dann nur noch meine Mutter, die erst kurz zuvor den Führerschein gemacht hatte. Und der Kadett gehorchte ihr sofort aufs Wort und tut es noch bis heute – von den paar Unfällen mit Blechschäden einmal abgesehen.

Ein Jahr lang war mein Vater Ausbilder bei Opel in Bochum gewesen. Die deftigen Lohnzulagen hatten ihn ins Ruhrgebiet gelockt. Zurück in Rüsselsheim, schob er dann im Pressewerk an den gigantischen Maschinen und im Achsenbau Nachtschicht um Nachtschicht, auch wegen der Zulagen. Als ich elf war, wollte ein Schulkamerad aus der gehobenen Mittelkasse – der Vater war bei Opel im Management – einmal von mir wissen, was mein Vater im Werk eigentlich mache. Ich log ihm vor, dass er einer der Meister in den schmucken grünen Kitteln sei. Der Vater des Jungen entblödete sich nicht und recherchierte meine Angaben tatsächlich nach. Ich war als Schwindler enttarnt.

Denke ich heute daran, tut es mir unendlich leid, dass ich damals nicht zu meinem Vater gestanden habe, sondern „etwas Besseres“ als ein Arbeiterkind sein wollte. Mit dem Lohn für seiner Hände Arbeit hatte mein Vater schließlich den Anbau am kleinen Siedlungshäuschen finanziert, das mein Großvater Ende der 30er-Jahre aufgebaut hatte, das im Krieg zerbombt und danach in Eigenleistung und mit Nachbarschaftshilfe wieder neu aufgebaut worden war. Damit es dann auch noch für den ersten Fernseher, den ersten B-Kadett, den zweiten B-Kadett, alle die andern Kadetten jedes Jahr danach und auch noch zur Finanzierung einer guten Ausbildung für die Söhne reichte, meldete er sich bei Opel oft auch noch zur Samstagsarbeit an und meine Mutter jobbte stundenweise bei der Post.

Wenn es im Opelwerk um zwölf Uhr zum Schichtwechsel „brummte“, dann kam bei uns das Mittagessen auf den Tisch

Opel bestimmte unser Leben. Wenn es dort um zwölf Uhr zum Schichtwechsel „brummte“, kam das Mittagessen auf den Tisch. Weil Vater wegen der Nachtschicht tagsüber schlief, mussten wir Jungs im Haus immer leise sein. Man ging sonntags zum Sportclub Opel (SCO), der in der zweithöchsten deutschen Spielklasse kickte und heute – während VW-Wolfsburg in der Bundesliga um die Meisterschaft mitspielt und im internationalen Geschäft mitmischte – in der Kreisliga Darmstadt West sein armseliges Dasein im Kampf gegen den Abstieg in die A-Klasse Groß-Gerau fristet. Ein böses Omen? Ein böses Omen.

Auch mein erstes Auto war 1970 ein Opel: ein Rekord P 1, Baujahr 1959, in Blau mit weißem Dach, Lenkradschaltung und durchgehender Sitzbank vorne. Doch dieser Wagen war leider nur ein reparaturanfälliges Ärgernis auf vier Rädern, den nur ein Jahr später ein anderes, schneeweißes Fahrzeug ersetzte, ein B-Kadett – natürlich.

Dann zog ich der Liebe wegen und zum Studieren weg aus Rüsselsheim, weg von Opel – und weg von meiner Opelfamilie. Volkswagen fuhr ich in der Fremde, Peugeot und Simca, BMW und Renault – und seit jetzt wohl 25 Jahren nur noch Mercedes. Und nie wieder Opel. Ein guter Freund und Studienkollege, der heute ein erfolgreicher Psychotherapeut ist, diagnostizierte mir deshalb kürzlich eine „Psychose“, die in der Verleugnung meines proletarischen Vaters in der Pubertät wurzele. Einen Opel zu kaufen, das käme für mich auch heute noch einem „Rückfall in die Zeiten der Verpuppung der Arbeiterklasse in ein diffuses Kleinbürgertum ohne Klassenbewusstsein“ gleich, von dem ich mich ja wohl schon immer – erst unbewusst und dann ganz bewusst – distanziert hätte. Ich zeigte ihm den Vogel.

Am Tag danach fuhr mein Schwager mit seinem Opel Vectra bei mir und meiner Frau – nach 24 Jahren im Exil sind wir wieder in Rüsselsheim daheim – im Hof vor. Für mich roch das Auto irgendwie nach ungewaschenem Blaumann. Ehrlich.

2012 steht bei Opel der 150. Geburtstag ins Haus. Der Autokorso dann darf kein Trauerdefilee werden. „Rettet Opel! Rettet Rüsselsheim!“ Wenigstens für meine große Opelfamilie. Und natürlich für meinen Vater posthum.