: „Sieht man gar nicht“
Leben Sie gerne hier? Fragt man das die Menschen an der Karl-Marx-Straße, dann werden sie schnell einsilbig
Auf den ersten Blick ist es schwer zu glauben, dass es hier – an der Karl-Marx-Straße und in den anliegenden Straßen – besonders schlimm sein soll. Es ist Nachmittag, das Café vor dem Rathaus ist gefüllt mit lachenden Menschen. Spaziergänger, Einkaufende und Lieferanten bevölkern die Bürgersteige und gehen an bunt gemischten Geschäften vorbei: Ein Wettbüro liegt neben einem Dönerladen, ein Schuhgeschäft neben einem Fitness-Studio.
Die Straße sei für ihre Juweliere bekannt, sagt der Verkäufer des „Goldparadieses“. Das Institut für Angewandte Demographie (Ifad) kommt in einer Studie zu einem Ergebnis, das diesen das Überleben schwer macht: Jeder fünfte Neuköllner in diesem Quartier bezieht Stütze (siehe Bericht links). Es hat den höchsten Migrantenanteil des Bezirks, hier wandern die meisten Menschen ab.
Es ist nicht leicht, von den Leuten Antworten zu bekommen, wenn es um die Frage geht: Lebe ich gerne hier? Die meisten werden einsilbig. „Die Alten versuchen, dazubleiben. Aber die jungen Leute ziehen weg, sobald die Kinder im schulpflichtigen Alter sind“, sagt Rosi S., die in einer Waffenhandlung arbeitet. Damit meint sie nur Deutsche. Selbst wohnt sie nicht im Kiez. „Wegen der Kriminalität – ich sage mal, hier fühlt man sich ja wie’n Fremder im eigenen Land.“
Pawel aus Polen wartet an einer Bushaltestelle. Er schaut erstaunt, als er erfährt, dass sein Kiez einer der ärmsten ist. Er zeigt die Straße entlang – einmal hinauf, einmal hinunter: „Gucken Sie, sieht man doch gar nicht, oder?“
Karlo ist gerade mal seit sechs Wochen in Berlin, er kommt aus Hoyerswerda. Dort hatte er einigen Ärger, zwei Jahre ist das her. Ein Typ spannte ihm sein „Mädel“ aus, Karlo hat ihn ordentlich verprügelt. Drei Jahre auf Bewährung und Alkoholentzug mit anschließendem Aufenthalt in der „Nachversorgung“ waren die Folge. Seit der Entlassung ist Karlo trocken geblieben, bewusst verließ er die alte Säuferclique in Hoyerswerda. In Neukölln lebt er jetzt von Sozialhilfe. Ein Neuanfang. LENA V. SEGGERN